Coaches als Beatmungsgeräte

joana breidenbach
6 min readMar 5, 2021
Maria Toto, Wellbeing Project

Was ist hier eigentlich los? Nicht nur Cordelia hat gerade ihren prestigeträchtigen Job im Großkonzern aufgegeben, auch Marie verlässt das selbst gegründete Unternehmen und Susanna die Kanzlei. Sie alle lassen sich zum Coach ausbilden. Lea macht schon während ihres Studiums den Kurs zum Systemischen Berater. Sonia gründet ihr erstes Business, eine Plattform auf der junge Frauen Mentoring und Coaching bekommen können.

Seit einiger Zeit, und verstärkt während der Corona Pandemie, kommt es uns so vor, als wenn viele Menschen um uns herum, insbesondere begabte, tatkräftige und motivierte Frauen, sich aus ihren bisherigen Berufen zurückziehen und den Weg ins Coaching, in die Beratung, Mediation oder Organisationsentwicklung finden.

Auf den ersten Blick — sinnvoll

Auf den ersten Blick macht das Sinn. Viele von uns erleben die bestehende Wirtschaftswelt als dysfunktional. Die Strukturen sind oft starr und verkrustet. Noch immer dominiert ein bestimmter Typ von Führungsperson, junge oder alte weiße Männer (oder Frauen mit dem gleichen Mindset), die ihre eigene Herangehensweise und Weltsicht als einzig gültige ansehen. Der Fokus auf Shareholder Value und Bottom Line verhindert die Transformation der Unternehmen hin zu multidimensionaleren Zielen, wie mehr Nachhaltigkeit und Potentialentfaltung der Mitarbeiter. In diesem Setting reiben sich hoch motivierte (junge) Frauen und Männer auf. Sie sind nicht nur persönlich unzufrieden, sondern erfahren sich als unproduktiv und wenig wirksam. Sie sagen “ich renne mit dem Kopf gegen die Wand”, “immer wieder stoße ich auf Widerstand und Stagnation”, “ich fühle mich leer und hohl”, “ich will aus dem Hamsterrad raus”. Viele haben Burnout Erfahrungen.

Der Weg an eine der vielen Coaching-Akademien und Institute verspricht dagegen nicht nur eine spannende Ausbildung, in der man sich mit seiner eigenen Persönlichkeit auseinandersetzen und wachsen kann. Sie bietet auch heiß ersehnte Resonanzerfahrungen und damit Sinn. Andere Menschen bei der Persönlichkeitsentwicklung und in Veränderungsprozessen zu unterstützen oder neue, ganzheitliche Organisationsformen zu entwickeln, motiviert oft weit mehr, als zu einem abstrakten Quartalswachstum beizutragen. Zwar gibt es einen großen Berufszweig, den gemeinwohlorientierten, non-profit Impact Bereich, in dem sinnvolle Aufgaben, in oft menschenzentrierteren Organisationen, en masse vorhanden sind, doch sind die dort üblichen Gehälter meist wesentlich niedriger. Und auch in der Welt der NGOs, Sozialunternehmer und Aktivisten sind sehr viele Menschen in der Spannung zwischen dem Wunsch etwas verändern zu wollen und der Tendenz sich selbst auszubeuten, gefangen. Coaching erscheint da eine attraktive, gut honorierte Alternative: ich kann etwas Gutes tun, sowie meine ureigenen Kompetenzen und meine eigene Perspektive einbringen und werde dafür adäquat bezahlt.

Auf den zweiten Blick — ambivalent bis gefährlich

Wieso dann erzeugt die Coaching Karawane bei uns dennoch ein Störgefühl? Sind nicht auch wir davon überzeugt, dass innere Kompetenzen und Persönlichkeitsentwicklung im digitalen Zeitalter so wichtig werden, wie nie zuvor? Erfordern die aktuellen großen Herausforderungen — die Klimakrise, soziale Ungleichheit und existentielle Not — nicht genau diese Zuwendung nach Innen? Einen besseren Selbstkontakt, ein Update unserer Beziehungskompetenz und einen neuen Umgang mit Komplexität? Sind nicht zwei von uns drei Autorinnen nicht auch Coaches und lieben ihren Beruf? Ja. Ja. Ja.

Und: Coaches wie wir finden sich in der zweiten Reihe wieder. Sie begleiten und unterstützen andere Führungspersönlichkeiten, statt selbst zu führen und zu manifestieren. Dabei brauchen wir gerade jetzt — während der Pandemie, kurz vor dem ökologischen Kollaps, inmitten der massiven Polarisierung und Fragmentierung unserer Gesellschaften — die von Coaches entwickelten Kompetenzen nicht am Rand des Spielfelds, sondern mitten drin.

Daher unsere Frage: Setzen begabte und motivierte Menschen ihre Kompetenzen optimal ein, wenn sie sich dem Coaching zuwenden? Oder brauchen wir sie an anderer Stelle?

Wenn wir das 2-Loop Modell des Berkana Instituts als Orientierung verwenden, dann sehen wir, dass unsere Welt im Transit ist: zwischen dem alten, industriellen und extrahierenden Paradigma und einem neuen, digital und regenerativen Paradigma.

Berkana Institute 2 Loops Modell

Wir glauben, es braucht mehr Menschen, die mutig die Geschäftsmodelle, Wertschöpfungsketten, politischen Strukturen, Bildungsmaßnahmen und Tausend andere Lösungen entwickelt, die Teil des neuen Weltbilds sind. Noch sind Geld und Macht ans alte System gekoppelt. Der Dinosaurier ist zwar alt und müde, aber er kämpft mit allen Bandagen ums Überleben. Und an ihm hängen jede Menge Jobs, Sozialstaat-Strukturen und Identitäten. Doch je stärker wir dieses System mit unserer Energie anreichern, desto mehr verhindern wir das neue regenerative, inklusivere Wirtschaftsformen und Politiken erblühen.

Kann es also sein, dass Coaches und Berater, genau entgegen ihrer Intention, das alte System noch am Leben erhalten? Sind sie die Beatmungsgeräte einer sterbenden Industrie?

Natürlich nehmen Coaches und Berater auch eine Brückenfunktion wahr und helfen Chefs und Mitarbeitern, Ministerialdirektoren und Politikern dabei, die Transformation ihrer Systeme von einem ins andere Paradigma verantwortungsvoll zu begleiten. Doch die Grenze zwischen dieser positiven Funktion und einem Beatmungsgerät ist schmal. Sehr oft sind die neuen Unterstützungsfunktionen eher Pflaster als 3-D Drucker: sie verhelfen Managern ihr persönliches Leiden in einem dysfunktionalen Laden zu lindern und zementieren damit den Status Quo, anstatt wie mit einem 3-D Drucker neue Strukturen, Produkte und Wertschöpfungsketten zu schaffen und eine neue Kultur zu entwickeln.

Wir sehen immer wieder, das Firmen Coaches nur in eine bestimmten Rolle akzeptieren: sie dürfen Probleme und Schieflagen emotional abfedern und dadurch Elemente des neuen regenerativen Paradigmas in Organisationen einführen. Die wirkliche Macht ist aber noch fest im alten Paradigma verankert. CEOs erlauben Coaches die Care-Arbeit zu machen. Aber wehe, wenn letztere wirklich nach der Macht greifen und Strukturen und Kulturen radikaler umbauen wollen. Wenn wir davon ausgehen, dass das neue Paradigma umfassender und höher (im Sinne von integrativer und multiperspektivischer) ist, als das alte, dann stehen wir vor dem Dilemma, dass die niedrigere Kompetenz darüber entscheidet, welchen Einfluss die höhere Kompetenz nehmen darf. Das kann nicht gut gehen.

Was also braucht es stattdessen?

Wir wünschen uns, dass junge Talente mit voller Kraft unsere Zukunft mit aufbauen und sie nicht nur als Hintergrund-Gestalten indirekt mit beeinflussen.

Wir wünschen uns, dass die alte Wirtschaft und ermüdete politische Strukturen sich verabschieden. Wir möchten sie in Würde entlassen, denn sie haben maßgeblich zum Wohlstand des 20. Jahrhunderts beigetragen. Aber viele von ihnen erzeugen mehr Ballast als Nutzen und stehen der dringend notwendigen Zukunft, ja sogar des Überlebens des Planeten, im Weg. Vor einiger Zeit berichtete uns ein Gast einer unserer Veranstaltungen im Das Dach von der Idee eines Hospizes für Organisationen und Unternehmen, deren Zweck sich bereits erfüllt hat und die jetzt Platz für Neues machen müssen. Lasst uns den Abschied würdevoll, aber deutlich begehen!

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen macht es auch Sinn mit frischem Blick auf den vielbeschworenen Konflikt zwischen Boomers und Millennials zu schauen. Viele öffentliche Debatten werden von den Boomers dominiert und in ihnen erscheinen die Millennials als verwöhnte, selbstverliebte und übermäßig depressive Generation, die den Ansprüchen der Leistungsgesellschaft nicht mehr gewachsen ist.

Was aber, wenn dies keine Pathologien sind, sondern vielmehr gesunde Reaktionen auf eine aus der Balance geratene, sinnentleerte Welt? Wieso sollen sich junge Menschen an eine Welt anpassen, die sie krank macht und die wir im gleichen Atemzug töten? Eine Welt, deren Machtarterien so verstopft sind, dass junge Menschen wenige Möglichkeiten sehen, sich selbst auszudrücken und Alternativen zu schaffen?

Was nun?

Wenn Du als Coach oder Berater arbeitest, überprüfe welche Rolle Du in einer Organisation oder in einem persönlichen Entwicklungsprozess spielst. Wo stehst Du auf dem Kontinuum zwischen Coach-Washing und wirklicher Transformation? Stellst Du Deine Energie dem alten oder dem neuen Paradigma zur Verfügung? Bist Du Teil des Problems oder Teil der Lösung?

Wenn Du Dich für eine Coaching-Karriere interessiert, frage Dich, ob es ein Thema gibt, was Dich wirklich beschäftigt und fasziniert und in dem Du den transformativen Ansatz von gutem Coaching integrieren kannst, während Du selbst in der ersten Reihe stehst und gestaltest. Und dann trau Dich! Gründe selbst oder übernehme eine Führungsposition in einem Unternehmen oder einer Institutionen, die ernsthaft bemüht sind eine neue Zukunft aufzubauen.

Und noch etwas: Die Bedürfnisse und Interessen, die hinter dem Coaching Boom stehen, sind real und wertvoll. Ebenso wie die erworbenen Kompetenzen wichtig und zukunftsweisend sind. Lasst uns deshalb, im Spirit von Start a Revolution, zusammentun, uns austauschen und unterstützen und gemeinsam neue Berufe und Rollen erfinden, in denen wir uns und die Welt zum Blühen bringen können.

Joana Breidenbach, Bettina Rollow, Rivka Halbershtadt

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joana breidenbach

anthropologist, author, social entrepreneur, co-founder of betterplace.org and betterplace lab, more recently New Work needs Inner Work