Mein Jahr mit brafe.space
Eine Binse sagt, dass Intentionen, wenn sie nur ernsthaft genug formuliert sind, sich mit der Zeit manifestieren. Mir erscheint das meist naiv. Aber manchmal erfüllen sich bestimmte lang gehegte Intentionen wirklich, wenn auch in ganz anderen Konstellationen als ursprünglich gedacht. Genau dies geschah im Fall von Das Dach und brafe.space.
Das Dach — ein halber Erfolg
Im Frühjahr 2018 gründete ich mit drei Freunden, Bettina Rollow, Mike LaVigne und meinem Mann Stephan, eine kleine Firma: Das Dach Berlin. Wir brannten dafür nachhaltige, ganzheitliche Innovationen mit Räumlichkeiten, Netzwerken, KnowHow und auch etwas Geld zu unterstützen. Wir mieteten eine große Fabriketage in Kreuzberg und richteten sie genau so her, wie wir uns unseren idealen Arbeitsort immer vorgestellt hatten. Wir holten ein paar Teams hinzu, meist Unternehmen in die wir selbst investiert hatten. Wir führten lange und konstruktive Diskussionen im Gründerkreis und veröffentlichten unsere Perspektiven — u.a. zu sinnvollen Innovationen — unter dem Pseudonym Keks Ackerman (s. Future Sensor).
Ein Jahr nach Gründung erschien Bettina und mein Buch New Work needs Inner Work (gerade als Hörbuch erschienen), welches sich mit der inneren Dimension der gegenwärtigen Transformation in der Arbeitswelt beschäftigte und ein Überraschungserfolg wurde. Zeitgleich unterstützte Mike die Gründerin eines höchst innovativen pakistanischen Gesundheits-StartUps (und schrieb über seine Erfahrungen hier und hier). Stephan entwickelte seine Legal Tech, Gesetzgebungsprojekte und Kreislaufwirtschaft-Unternehmen weiter, von denen eines, Carbon Loop Technologies, auch im Das Dach seinen Sitz hatte.
Doch so befriedigend unsere jeweiligen Tätigkeiten auch waren, so richtig hob unsere gemeinsame Vision eines radikal transformativen Inkubators nicht ab. Wir hatten zu wenig Kapital um selbst zu investieren, und schafften es nicht mit unseren Netzwerken ein richtiges Momentum zu erzeugen. (Die einzige Ausnahme war LegalOS, das Startup unserer Tochter Lilian, Charlotte Kufus und Jake Jones, die seid Beginn im Das Dach waren und mittlerweile die Hauptmieter der ganzen Fläche sind.)
Von Leadership Sprouts zu brafe.space
Dann, im Frühjahr 2020, kontaktierte mich Rolf Schrömgens. Rolf hatte Trivago gegründet und es sehr erfolgreich an die Börse gebracht. Ich kannte Trivago vor allem, weil die Firma sich als eine der ersten deutschen Startups sehr bewusst mit dem Thema Potentialentfaltung auseinandergesetzt und eine experimentierfreudige und durchlässige Unternehmenskultur aufgebaut hatte.
Auf dem Spaziergang erzählte mir Rolf von seiner eigenen Inner Work Reise und Plänen für eine neue Organisation, Leadership Sprouts. Er und seine Mitgründern Anna wollten, zusammen mit anderen Freunden, ein Investmentnetzwerk für junge Gründer aufbauen. Innerhalb des Netzwerks sollten GründerInnen die Möglichkeit bekommen, sich mit ihrem persönlichen Wachstum zu beschäftigen, um bessere, d.h. ganzheitlichere Unternehmen aufzubauen. Zudem wollten Rolf & Co die Weise WIE investiert wird verändern: ohne übergriffig zu werden und mit einem Dialog auf Augenhöhe zwischen GründerInnen und InvestorInnen.
So wichtig ich es fand, die strukturellen Beziehungen in der StartUp Branche zu verändern, so sah ich keinen wirklichen Platz für mich in dieser Gruppe. Ich wollte vor allem (Sozial)Unternehmen unterstützen, die nicht nur an einer inkrementellen Verbesserung des bestehenden Systems, sondern an dessen radikaleren Erneuerung interessiert waren. Doch Rolf schaffte es mich zu einem Treffen der Gruppe zu überreden und so verbrachten wir im Juni 2021 ein Wochenende im Michelberger Hotel.
Zuerst schienen sich meine Vorbehalte zu bewahrheiten: außer Anna saßen da nur Männer gleichen Alters und Couleurs. Da half es auch nur wenig, dass einer von ihnen, Waldemar, ein T-Shirt mit dem Slogan Future Female Force trug. Sie zeigten Folien zu Vision, Mission und Brand und diskutierten ein mögliches Curriculum für GründerInnen. Soweit so gut und konventionell.
Aber als wir anfingen zu diskutieren, war ich überrascht. Die Gruppe war offen für neue Impulse, hörte gut zu und diskutierte leidenschaftlich. Wir teilten viele Erfahrungen und Überzeugungen. Innerhalb von wenigen Stunden entwickelten wir eine neue Vision mit wirklich innovativen Leitplanken.
- Wir kippten die zementierte Grenze zwischen For-Profit Startup GründerInnen auf der einen und Aktivistinnen und Non-Profit GründerInnen auf der anderen Seite. In dem neuen Netzwerk sollten beide Gruppen von UnternehmerInnen ihren Platz haben.
- Wir lösten die Grenze zwischen “erfahrenen Investoren” (hier zu gendern erscheint mir leider noch unpassend) und “jungen GründernInnen”, zwischen Geldgebern und GeldnehmerInnen, auf: während im ursprünglichen Konzept erstere als Mentoren für letztere agieren sollten, landeten wir bei der Einsicht dass wir alle Lernende sind, da niemand die Zukunft kennt. Stattdessen würden wir gemeinsam in einem emergenten Prozess die Zukunft von Investments, Geschäftsmodellen und Unternehmenskulturen entwickeln. Das war sehr cool!
- Wir führten ernsthafte Diskussionen um die Zusammensetzung unserer Gruppe. Allen war klar, dass unsere homogene Truppe keine glaubwürdige Basis für ein zukunftsweisendes Netzwerk war. Wenn wir ganzheitlicher arbeiten wollten, müssten wir mehr Perspektiven, auch von bislang sozial diskriminierten Gruppen in unserem Kern einbeziehen.
Die neue Vision baute auf den Vorarbeiten der Gruppe auf, zugleich hatten wir innerhalb weniger Stunden etwas wirklich Neues geschaffen. Wir suchten einen Namen und entschieden uns für brafe.space. Denn genau das wollten wir schaffen: einen sicheren Ort, von dem aus wir uns trauen konnten, wirklich neue Wege in Bezug auf Finanzen und Unternehmertum zu gehen.
Der unternehmerische Geist der Gruppe war mitreißend. Statt ewig lang an Zielen, Marke und Prozessen zu feilen, beschlossen wir bei diesem ersten Treffen gemeinsam ins Tun zu kommen. „Lasst uns doch eine geile Veranstaltung planen und dabei sehen, ob wir miteinander was Interessantes auf die Beine stellen können“ (Waldemar).
Gesagt, getan.
48 Stunden im September 2021
Der Aufbruchsgeist trug uns durch die nächsten Wochen und innerhalb kurzer Zeit stellten wir September 2021 ein 48stündiges Treffen in Brandenburg auf die Beine. Mit einer sehr diversen Gruppe von 70 Menschen erforschten wir gesellschaftliche Exklusion, strukturelle Diskriminierung und Intersektionalität, ebenso wie die Systemfehler des bestehenden Finanzierungswesens und das Hamsterrad, in dem sich junge Gründer Innenbefinden.
Dabei ging es uns nicht um intellektuelle oder ideologische Diskussionen, sondern um verkörperte Erfahrungen von brennenden Fragen: wie erlebe ich als Mensch meine Privilegien/ verschiedene Formen der Diskriminierung/ den Druck von Geldgebern? Welche Aspekte in mir und in der Gesellschaft muss ich ausblenden, um erfolgreich zu sein? Welchen Preis zahle ich dafür? Wie könnte es anders sein? Was können wir anders machen?
Die Veranstaltung war ungewöhnlich: obwohl viele „Alpha-Tiere“ dabei waren, ging es nicht ums funktionale Netzwerken, sondern um tiefere persönliche Begegnungen, oft zwischen Menschen, die sich sonst nie kennengelernt hätten. Emotional aufwühlende Phasen der Exploration wechselten sich mit besinnlichen Musikstunden (u.a. mit dem wunderbaren schwedischen Singer Songwriter Lonely Dear), Yoga, Körper-Interventionen und Atemübungen ab. Bettina, die inzwischen unserer Gruppe beigetreten war, gelang es mit Hilfe einer emergent auf den Gruppenprozess abgestimmten Facilitation, auftretende Konflikte konstruktiv zu bearbeiten. Eine ausführlichere Beschreibung der Veranstaltung findet ihr hier.)
Die 9-monatige Pilotphase: Core Competency Workshops und Circles
Im Anschluss an unser Treffen, luden wir alle Teilnehmer in eine 9 monatige Pilotphase ein, mit dem Ziel die Eckpfeiler unseres Netzwerks zu entwickeln.
Dabei definierten wir unser Ziel und die Intention eher lose: wir wollen einen Vertrauensraum aufbauen, in dem wir uns für unsere teilweise sehr unterschiedlichen Perspektiven auf das Leben öffnen konnten. Dieser multiperspektive, sichere Raum sollte als Basis dienen, um uns mutig den aktuellen Herausforderungen zu stellen und neue Strukturen und Kulturen zu entwickeln.
Bei brafe.space wollen wir nicht nur ein bißchen weniger Druck auf Gründer ausüben, ein bißchen mehr Nachhaltigkeit ins Geschäftsmodell einbauen, ein bißchen mehr soziale Wirkung erzielen. Sondern grundlegende Fragen erforschen und beantworten: wie können wir Macht, Geld und Investment neu denken? Wie sehen Unternehmenskulturen aus, die die drei Ps: Planet, People und Profit wirklich ernst nehmen? Wie bauen wir Beziehungen zueinander auf, die wirkliche Innovationen ermöglichen? Welche Kompetenzen brauchen wir für unsere komplexe BANI-Welt (BANI: brittle, anxious, non-linear und incomprehensible)? Wie bauen wir eine AktivistInnen-Kultur, die die Polarisierung nicht verstärkt und nicht auf Mangel und Selbstausbeutung aufgebaut ist?
Neben der Erforschung dieser Fragen, geht es uns konkret darum, neue Finanzierungsinstrumente und Unterstützungsformen für junge UnternehmerInnen zu entwickeln.
Menschen, die sich die Teilnahme an der Co-Kreationsphase finanziell nicht leisten konnten, boten wir ein monatliches Stipendium an. Finanziert von (anonymen) GeldgeberInnen, wurde es an die (ebenfalls anonym bleibenden) EmpfängerInnen ausgezahlt.
Zu unser großen Freude entschieden sich die meisten Gäste unseres September-Treffens dazu, an der Pilotphase mitzuwirken. Zu Beginn ging es hauptsächlich darum, Vertrauen und eine gemeinsame konzeptionelle Basis zu schaffen. Deshalb durchliefen alle im Januar/ Februar dieses Jahres drei Inner Work Core Competency Workshops (angelehnt an die Well:Being Workshops des betterplace lab). In diesen beleuchteten die Teilnehmer ihre Beziehung zu
1. sich selbst (Selbstkontakt und Selbstreflexion),
2. zu einander (Erforschung des Beziehungsraums und Kompetenzen wie emergentes Sprechen und aktiv es Zuhören) und
3. zur Welt (Kompetenzen wie Multiperspektivität und Metareflexion).
Danach trafen wir uns in Kleingruppen von 7–8 Teilnehmern, einmal monatlich für 3 Stunden (online oder in Präsenz). In diesen so genannten Circles vertiefen wir die Selbst-Exploration und organisieren ein Peer-to-Peer Mentoring. Die Circles verlaufen selbstorganisiert, werden aber von Bettina inhaltlich vorbereitet.
Parallel zu dem Inner Development-Track von brafe.space, entwickeln wir den Investment-Track. Denn Inner Work ist für uns nicht Selbstzweck, sondern untrennbar mit handfesten Aktivitäten verbunden.
Dabei geht es um viele spannende Fragen und Weichenstellungen:
* Wie können nachhaltige Investments in for- profit Startups aussehen?
* Wie können wir Aktivistinnen und Sozialunternehmen optimal unterstützen?
* Wie gestalten wir die jeweiligen Investment-Verträge?
* Welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit Unternehmen Investments bekommen?
* Mit welchen Kriterien messen wir Erfolg?
* Welche Themen und Hilfestellungen sind für junge Gründer essentiell um ihre Unternehmungen voranzutreiben und ganzheitlich zu entwickeln?
* Welcher Rahmen hilft Geldgebern und -nehmern sich auf Augenhöhe zu begegnen und auch „schwierige“ Gespräche — über Geld, Einfluss, Ziele — konstruktiv zu führen?
* Wie kann sich brafe.space selbst als Netzwerk nachhaltig finanzieren?
Mach mit in der nächsten Kohorte von brafe.space
Jetzt, nach gut einem Jahr, öffnen wir uns für eine neue Kohorte von Mitmachern.
Für unser nächstes Treffen Mitte September laden wir, zusätzlich zu unseren „Brafers“ der 1. Generation, 50 neue Teilnehmer ein. Dafür führen wir momentan Gespräche mit diversen kompetenten for-profit und non-profit InvestorInnen, mit GründerInnen, mit AktivistInnen und mit anderen spannenden Menschen, die die Zukunft wirklich neu gestalten wollen.
Neben dieser sorgsam kursierten Gruppe von Teilnehmern, haben wir 12–15 Plätze für GründerInnen zu vergeben. Seit heute (und noch bis zum 5. August) könnt ihr euch bewerben, um an unserem nächsten Event vom 12.-14. September in Brandenburg teilzunehmen und Teil von brafe.space zu werden.
Wir freuen uns, wenn ihr die Bewerbung auch in euren Netzwerken verbreitet!
Der Kreis schließt sich … von Das Dach zu brafe.space
Für das nächste Treffen haben wir auch Stephan und Mike eingeladen, Bettinas und meine Mitgründer von Das Dach. Und damit schließt sich der Kreis, denn mit brafe.space ist — unter anderem Namen, mit anderen Menschen und anderen Formaten — doch genau die Bewegung in der Welt, die wir uns 2018 gewünscht hatten.
Für mich persönlich war das Jahr mit brafe.space reich: an Reflexionen, insbesondere in Bezug auf meine eigenen Privilegien, aber auch an berührenden Begegnungen mit Menschen jenseits meiner gewohnten Pfade. Ich nehme heute stärker als je zuvor wahr, wieviele Aspekte des Lebens ich exkludiere und von mir fern halte. In mir, in der Gesellschaft, in Bezug auf unsere Welt. Wieviele blinde und taube Flecken ich in mir habe, die verhindern, dass ich mehr Realität im Außen wahrnehme. Aber auch wie lebendig und gut es sich anfühlt mit einer engagierten, hingebungsvollen Gruppe gemeinsam an den wichtigen Fragen unserer Zeit zu arbeiten. Voller Tatendrang und Demut.