Rasender Stillstand

joana breidenbach
15 min readNov 15, 2024

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When things seem urgent, its time to slow down
Bayo Akomolafe

Illustration generiert mit Midjourney

Die Welt wird einfach nicht besser!
Als Sozialunternehmerin werde ich oft darauf angesprochen, dass ich versuchen würde, die Welt“ zu retten“. Auf Konferenzen oder vor Vorträgen stellt man mich als jemanden vor, der die Welt zu einem “besseren Ort” machen möchte. Und wirklich sprechen einige der Namen der Organisationen, die ich in den letzten 17 Jahren mit-gegründet habe — betterplace.org, betterplace lab, gut.org — genau für diesen Anspruch.

Allerdings stößt das Bild der „Weltretterin“, die die Welt verbessert, bei mir seit einiger Zeit auf maximalen Widerstand. Denn diese Bezeichnungen strotzen von Hybris und behaupten einen Wirkungsanspruch, der nicht nur angesichts der düsteren Entwicklungen der letzten Woche, in der wir mit der Wiederwahl eines verurteilten Verbrechers, Frauenfeinds und Rassisten in das höchste politische Amt konfrontiert wurden, geradezu lächerlich erscheint. Der Anspruch des „Weltrettens“ geht aber noch viel grundlegender an der Realität vorbei, denn weder kann irgendjemand die Welt gezielt nach seinen Vorstellungen verändern, geschweige denn “retten”. Unsere Vorstellungen von Wirkung, so eine meiner wichtigsten Einsichten aus 17 Jahren Sozialunternehmertum, verbreiten ein falsches, ja sogar gefährliches Bild von Aktivismus und Engagement.

In diesem Blogpost, inspiriert von Eva Illouz neuem Buch, Explosive Moderne (2024), möchte ich mich auf einen Aspekt dieses Missverständnis fokussieren: auf die Annahme, wir könnten die Zukunft durch unsere Vorstellungen und Aktionen auf eine gezielte Art und Weise beeinflussen. Schon lange überkommt mich bei den vielen Versprechungen, dass alles, was jetzt schwierig ist, besser wird, wenn … wir diese Petition unterzeichnen, dieses Gesetz erlassen, diese Partei wählen, aber auch diese Atemtechnik ausprobieren, diesen radikalen Neuanfang wagen, dieses Protein einnehmen, diesem Life Coach folgen, diese Technologie integrieren, ein schales, irreales Gefühl.

Es ist ein Gefühl rasenden Stillstands, der frantic inertia. Als wenn man wie wild in die Fahrradpedale tritt, aber die Reifen hängen ein paar Zentimeter in der Luft und man kommt nicht voran. In früheren Blogposts, z.B. hier und hier und hier, habe ich mich schon oft mit der Frage beschäftigt, wieso viele gut gemeinte Transformationsansätze keine relevante Veränderung bewirken. So viel vermeintlich Neues und Innovatives verlängert im Kern nur die Vergangenheit, da es der gleichen Logik folgt, wie die Misstände, die wir beseitigen wollen. Wir versuchen, um das Einstein zugeschriebene Bonmot zu verwenden, „die Probleme mit dem gleichen Denken zu lösen, durch das sie entstanden sind“.

Aber wirkliche Innovation transzendiert die Widersprüche und Spannungen der Gegenwart und bietet eine neue Antwort, die mehr Realität beinhaltet. In diesem Verständnis gehen wir davon aus, dass Krisen und Malaisen durch die Ausgrenzung von Realität entstehen und erst überwunden werden können, wenn wir mehr Wirklichkeit einbeziehen. Ausführlicher habe ich diese Dynamik im Abschnitt „Unsere Theory of Change — Inkludiere mehr“ in diesem Blogpost beschrieben.

Zukunft ist nicht „morgen“, sondern eine tiefere Beziehung zur Welt

Wirksame Veränderung bezieht sich auf die Tiefenstruktur von Realität. „Zukunft“ ist keine zeitliche, sondern eine ontologische Dimension. Sie beschreibt nicht das, was „morgen oder übermorgen“ geschieht, sondern eine umfassendere Beziehung des Menschen zur Welt.

Im mystischen Verständnis, aber auch in den Arbeiten herausragender Philosophen und Physiker, wie Alfred North Whitehead, Herrn Bergson, William James oder Wolfgang Pauli, ist „Zukunft“ kein autonomer Bereich, der vom Menschen abgetrennt ist. Mensch und Welt sind vielmehr untrennbar in einem co-kreativen Prozess verbunden, in dessen Rahmen sich beide entfalten. Diese Erkenntnis findet sich in Ausdrücken wie Carl Sagan’s: „Wir sind ein Weg für den Kosmos sich selbst zu erkennen“ oder Allan Watts’: „Durch unsere Augen nimmt das Universum sich selbst wahr“.

Die Basis jeder Zukunftsgestaltung ist die Kapazität sich so umfassend wie möglich auf die Welt zu beziehen und mit ihr in Resonanz zu gehen. Und zwar mit der Welt, so wie sie sich gerade in uns abbildet, nicht, wie wir sie uns erträumen oder erhoffen. Im Blogpost Die Metakrise oder welche Zukunftspfade stehen uns offen? habe ich einige damit zusammenhängende Prinzipien ausführlicher beschrieben.

Der erste Schritt der Veränderung besteht darin, dass wir die Verbindung zwischen uns und der Außenwelt mehr fühlen und verstehen, wie tief wir mit der äußeren Realität, die wir verändern wollen, verwoben sind. In diesem Sinne gibt es kein „System da draußen“, das wir verbessern können. Wir lernen die kollektiven Strukturen in uns selbst zu identifizieren und sehen, wie wir sie, meist unbewusst, reproduzieren. Veränderung, Innovation, etwas Neues, startet nicht „da draußen“, sondern „hier in mir“. Indem wir uns so auf die Welt einlassen, wie sie gerade ist — in ihrer Komplexität, voller Widersprüche, Fragmentierungen — und einem Wissen umdie abgespaltenen und unbewussten Teile in uns, vergrößert sich die Welt und kann sich mehr entfalten. Indem wir uns mehr mit Realität verbinden, können wir sie transformieren. Wobei es eine Frage ist, inwiefern „wir“ es sind, die sie verändern, oder ob durch die Bewusstwerdung feststeckende Energie sich entfalten kann und dadurch eine neue Bewegung stattfindet.

Krisen lassen sich folglich nicht bewältigen, indem wir sie umschiffen, sondern indem wir sie annehmen, integrieren und transzendieren. Probleme stehen uns nicht im Weg, sie sind der Weg.

Die Auslagerung des Lebens in die Zukunft

Dieses Verständnis von Zukunftsgestaltung steht in scharfem Kontrast zu unserem modernen Fortschrittsdenken. Umso interessanter fand ich die Lektüre des neuen Buches der Soziologin Eva Illouz, Explosive Moderne, da sie den Ursprüngen des letzteren nachspürt. Illouz beschreibt die Wechselbeziehungen zwischen individuellen Gefühlen und gesellschaftlichen Strukturen seit der Aufklärung. Sie zeigt, wie individuelle Empfindungen, darunter Hoffnung, Enttäuschung, Neid, Eifersucht oder Liebe, eng an spezifische soziokulturelle und wirtschaftliche Strukturen gekoppelt sind. Meine und deine intimen inneren Erfahrungen entstanden im Tandem mit äußeren gesellschaftlichen Strukturen, darunter Wissenschaft und Kapitalismus, Demokratie und Bildungssystem und sind untrennbar an diese rückgekoppelt.

In dieser historisch-soziologischen Perspektive wird deutlich, dass wir seit Jahrhunderten versuchen, aktuelle Probleme zu lösen, indem wir die Antworten auf die Zukunft auslagern und das diese Herangehensweise nicht funktioniert. Die moderne Weltsicht beinhaltet ein inhärentes Dilemma: wir gehen davon aus, dass unsere Welt nach unserem Willen gestaltbar ist, das wir Fortschritt bewirken können. Doch de facto erweisen sich die allermeisten dieser Versprechen als hohl. Sowohl gesamtgesellschaftlich als auch individuell klaffen Anspruch und Wirklichkeit schmerzlich auseinander und führen damit zu dem eingangs beschriebenen Gefühl des „rasenden Stillstands“.

Aber noch mal im Detail:
Ab dem 17. Jahrhundert entstand im westlichen Europa eine spezifische Weltsicht und Gefühlsstruktur. Diese erscheint uns heute ganz normal, im kulturvergleichenden und historischen Blick erweist sie sich jedoch als eine sehr spezifische Variante unter vielen anderen.

Eine Besonderheit der Aufklärung ist ihre Ausrichtung auf die Zukunft, eine Zukunft, auf die man hoffen und hinarbeiten kann. Die einst statische Welt des christlichen Mittelalters dynamisiert sich und der Einzelne kann, ja wird sogar dazu verpflichtet, den Status Quo hinter sich zu lassen und gesellschaftlich aufzusteigen. Während in der christlich dominierten Weltempfindung die Menschen vor allem Sünder waren, die ihr irdisches Leben nur geringfügig positiv verbessern konnten und statt dessen ihr Glück im Jenseits erwarteten, verlagert sich das Heilsversprechen in der Moderne auf die irdische Existenz. Gesellschaftlicher Aufstieg wird möglich durch Bildung, Konsum und persönliche Entwicklung.

Damit verändern sich Gefühlsstruktur und Erwartungen des Einzelnen grundlegend. Jetzt geht es nicht mehr darum, sich mit seinem vorgegebenen Platz zufrieden zu geben, sich dem Schicksal zu ergeben. Stattdessen fangen Menschen an, mögliche Welten und Biographien zu imaginieren. Sie hoffen auf Fortschritt und Entwicklung.

„Hoffnung“ als neue Gefühlsstruktur

„Hoffnung“ an sich wurde zu einem wichtigen neuen Gefühl. De facto wurde die Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert sozial durchlässiger. Es entstanden neue „Institutionen der Hoffnung“ (Valerie Braithaite), eine „Menge von Regeln, Normen und Praktiken, die sicherstellen, dass wir einen gewissen Spielraum haben, um nicht nur von einem besseren Leben und einer besseren sozialen Stellung zu träumen, sondern auch (zumindest dem Anschein nach) über die Mittel zu gebieten, diese zu erreichen. Institutionen der Hoffnung (…) bieten ein Skript, in dem von uns erwartet wird, dass wir uns aktiv und verantwortungsbewusst an einer lebendigen Zivilgesellschaft beteiligen.“

Hoffnung macht das Selbst zu einem „grundsätzlich offenen, unabgeschlossenen … Projekt. (…) Damit entsteht eine neue Kategorie: die des „möglichen Lebens“. Das „mögliche Leben“ ist sowohl eine neue Ressource, die die soziale Welt bietet, als auch eine kognitive Fähigkeit, das Selbst in die Zukunft hinein zu entwerfen, das eigene Lebensziel zu bestimmten.“ Hoffnung geht einher mit neuen Empfindungen und Konzepten, wie Streben und Ehrgeiz, Träume und Sehnsüchte, Pläne und Lebensziele.

„Die Hoffnung wurde zu dem Pfeilbogen, der die Individuen unsichtbar auf sozialen Pfaden vorantrieb, die ihnen im Prinzip offen standen.“ Die westliche Literatur des 19, und frühen 20. Jahrhunderts ist voll von Romanfiguren, wie Julien Sorel in Stendhal’s Roman Rot und Schwarz, die die Welt unter dem Leitstern des Ehrgeizes betreten, einer neuentdeckten kognitiven und emotionalen Kategorie, welche durch eine sozial mobilere Gesellschaft ermöglicht und durch die Hoffnung auf Erfolg beseelt wurde.

Vieles, was in der Gegenwart schwer zu ertragen war, würde in der Zukunft besser sein. Bei dieser Verlagerung der Aufmerksamkeit in die Zukunft spielten der Kapitalismus und die neu aufkommenden Konsummöglichkeiten eine zentrale Rolle. Zum einen war es Männern wirklich möglich aus den engen Grenzen ihres jeweiligen Berufsstands (Leibeigene, Bauern, Handwerker) auszubrechen und eine Karriereleiter in den neuen bürgerlichen Gewerben zu erklimmen. Zum anderen barg die neue Verfügbarkeit von Waren das Versprechen, die eigene niedere Herkunft durch entsprechende Konsumgüter — Kleidung, Einrichtungsgegenstände u.ä. — zu verschleiern und sich Zugang zu einer höheren Schicht zu verschaffen.

Neben dem Kapitalismus versprachen auch Demokratisierung und Bildungsinstitutionen eine bessere Zukunft. Diese Systeme propagierten, dass alle Menschen gleich sind und durch eigene Anstrengung ihre angeborene soziale Position überwinden und aufsteigen könnten. Damit verbunden war ein neues Zeitempfinden: da ich aufsteigen/ mich entwickeln kann, macht es für mich Sinn in die Zukunft zu investieren, in Bildung, in Karriereleitern, in Konsum. Diese Ideologie findet in dem American Dream ihren Höhepunkt: alle Menschen, da gleich geschaffen, können auf der Basis ihrer eigenen Anstrengungen Glück und Wohlstand finden. Die Meritokratie geht davon aus, dass der Status eines Menschen ausschließlich durch seinen gegenwärtigen, individuellen und messbaren Verdienst legitimiert ist.

Enttäuschung vorprogrammiert

Soweit die Theorie. Doch die Praxis sieht anders aus. Illouz beschreibt, wie vor ihr schon Michael Sandel in seinem wichtigen Buch The Tyranny of Merit (2020), das Dilemma der meritokratischen Ideologie. Denn da die versprochene Gleichheit weitgehend fiktiv ist, sind Enttäuschungen vorprogrammiert. Die Institutionen der Moderne, allen voran Kapitalismus, Konsumgesellschaft und Demokratie, können die Erwartungen, die sie wecken nicht nur nie erfüllen, sie scheitern mit der Zeit immer häufiger.

Denn viele Aufstiegsmöglichkeiten, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch möglich waren, sind heute verschlossen. So hatten in den 1930er Jahren fast alle Bereichsleiter der Einzelhandelskette Safeway ihren Berufsweg an der Kasse begonnen. Heute stehen diese Positionen nur Menschen mit Hochschulabschlüssen offen. In die gleiche Richtung weisen unzählige Statistiken: immer mehr Menschen sind immer besser ausgebildet, doch bevorzugt der Arbeitsmarkt weiterhin die einkommensstarken Schichten und reproduziert damit (meist unsichtbar) die Kluft zwischen arm und reich. Die soziale Mobilität ist mehr und mehr blockiert: Mitte des 20. Jahrhunderts verdienten Geschäftsführer im Durchschnitt 20 x so viel wie ihre Arbeiter. Heute beträgt der Unterschied 300. Und das, bei stark angestiegenem Bildungsstand in der Gesamtbevölkerung.

Da die Leistungsgesellschaft strukturell ihre Versprechen nicht halten kann, werden immer mehr Menschen enttäuscht. Das gleiche Muster, glänzende Versprechungen gefolgt von Frustration, wiederholt sich auch außerhalb der Arbeitswelt, sei es beim Wischen auf Dating-Portalen, der Ferienplanung, dem Kauf der neuen Jeans. Obwohl wir in ständiger Bewegung sind, erleiden wir eine Kleinstenttäuschung nach der anderen. Damit löst sich die hoffnungsvolle Struktur unseres Lebens auf und stützt uns in einen Zustand des Dahindümpelns, in den rasenden Stillstand.

Wie viel unserer Zeit verbringen wir damit, uns ein „besseres“ Leben in der Zukunft vorzustellen? Der britische Psychoanalytiker Adam Philipps nennt es das „ungelebte Leben“, welches uns sowohl als Individuen, als auch als Gesellschaft von der Gegenwart ablenkt. Für einige Soziologen, so Illouz, ist die Diskrepanz zwischen dem, was man sein möchte und dem was man ist, sowie die Unmöglichkeit diese Diskrepanz zu überwinden, das Charakteristikum der Moderne schlechthin.

Diese Kluft bedienen auch große Teile des Aktivismus. Viele AktivistInnen und Sozialunternehmer wollen, geleitet von besten Intentionen, bloss weg vom schrecklichen Status Quo. Davon, wie die Welt gerade ist, hin zu mehr Frieden und Gerechtigkeit. Dabei verlieren wir den Bezug zu der Realität, bzw. müssen uns von ihr distanzieren, indem wir Andersdenkende und -handelnde zu „Gegnern“ erklären, sie abwerten und in ihrer Menschlichkeit reduzieren. Mehr dazu im Blogpost Relational Activism.

Illouz skizziert noch eine weitere Entwicklung. Denn weil die äußeren, materiellen Faktoren ihre Heilsversprechen nicht erfüllen, verlagert sich die Verantwortung für ein gelungenes, glückliches Leben immer mehr ins Innere. Unsere zeitgenössische Selbsthilfe- und Coachingkultur pocht darauf, dass nur Menschen, die über die adäquaten psychologischen Kompetenzen verfügen, erfolgreich und zukunftsfähig sind. Damit richtet sich das Gefühl der Enttäuschung zunehmend gegen das eigene Selbst. Die hartnäckig klaffende Lücke zwischen Ideal und Wirklichkeit erzeugt eine Gefühlsstruktur, die zwischen hoffnungsvoller Sehnsucht und Enttäuschung oszilliert und ein kohärentes, positives Selbstwertgefühl verhindert.

Projektion und die Rolle von kollektivem Trauma

Unsere Aufmerksamkeit wendet sich von der Gegenwart ab und projiziert sich auf ein zukünftiges Ziel. „Weg von“ ist eine typische Trauma-Reaktion. Kollektives Trauma bezieht sich darauf, dass die Menschheit im Laufe ihrer Entwicklung massive Wunden erlitten hat, die Teil unserer kulturellen Psyche sind. Dazu zählen Ereignisse wie Sklaverei, Kolonialismus, Kriege und Genozide. Nachfolgende Generationen werden, so schreibt Thomas Hübl, in dieses Narbengewebe hineingeboren. Dies erzeugt Symptome, die manchmal offenkundig, manchmal subtil sind. Viele der Verzerrungen durch kollektives Trauma decken wir mit dem Begriff „so ist das Leben nun mal“ zu.

Analog zum individuellen Trauma, bei dem der Körper von enormem Stress überflutet, sich zum Schutz abkoppelt, dissoziiert oder taub wird, haben Gesellschaften auf kollektiver Ebene Überlebensmechanismen entwickelt, die sie (bzw. die dominanten Klassen) „schützen“ indem sie sie aufwerten und ihnen psychologische Sicherheit anbieten. Dazu zählen kulturelle Normen und Ideologien, darunter Rassismus oder Sexismus, die Diskriminierung oder Gewalt legitimieren. Während sie den Machthabern innerhalb der Gesellschaft vordergründig als Überlebensinstrumente dienen, trennen sie aber alle Beteiligten von der Realität und ihrer eigenen Lebendigkeit ab.

Gesellschaftliche Traumastrukturen führen zu Trennung: von mir selbst und meiner Umwelt. Wenn ich Teile meines Selbst ausblende, bzw. als Gesellschaft große Teile der Mitmenschen marginalisiert, indem ich sie „zu Anderen“ mache, werde ich vieles nicht fühlen, was im Radius des Lebens existiert.

Typische Überlebensstrategien sind Nicht-Fühlen und Taubheit, aber auch Hyperaktivität, Atemlosigkeit und das Gefühl, keine Zeit zu haben. Beide Bewegungen bewahren uns vor dem Schmerz ungefilterter Sinneswahrnehmungen. Besser also, Aufmerksamkeit von der Gegenwart abzuziehen und sich mit Zukunft oder Vergangenheit zu beschäftigen. Trauma, so Thomas Hübl, sprengt die Einheit der Gegenwart in Vergangenheit und Zukunft. Denn die arretierte Energie will sich erlösen und braucht dazu Zeit und eine „Zukunft“.

Traumazeit Aufklärung

Bei Illouz findet Trauma keine Beachtung. Doch ich glaube, es ist nicht zu weit gegriffen, wenn wir die Umbruchszeit nach der Reformation und der „Entdeckung“ der Amerikas im 16. Jahrhundert, als Traumazeit identifizieren. Das 16. und 17. Jahrhundert gingen einher mit tiefgreifenden politischen Konflikten und kulturellen Auswirkungen, die große Bevölkerungsteile beeinflussten.

Dazu gehören die verheerenden religiösen Kriege und Verfolgungen, die Europa politisch und kulturell entzweiten, insbesondere in Form des Dreißigjährigen Kriegs (1618–1648), der in deutschen Städten zu weitreichenden Zerstörungen, Hungersnöten und Bevölkerungssterben führte. Der Krieg traumatisierte aber nicht nur auf materielle Weise. In Folge der Reformation wurden auch die tradierten Autoritäten und das gesamte Weltbild in Frage gestellt. Immer mehr Menschen wandten sich von einem transzendenten, spirituellen Weltbild ab und begannen säkulare Werte und Menschen an seine Stelle zu stellen. Wissenschaftliche Entdeckungen, z.B. durch Kopernikus, Galilei oder Newton lösten Begeisterung, aber auch existentielle Verunsicherung aus. Menschen begannen ihren eigenen Platz in der Schöpfung zu hinterfragen. Frühe kapitalistische Strukturen forderten das Feudalsystem und ländliche Lebensweisen heraus und trugen ihrerseits zum Gefühl von Entwurzelung und Verlust bei. Inmitten dieser fundamentalen Instabilität entstand das Bedürfnis sich eine bessere Zukunft auszumalen, sich auf „Fortschritt“, „Hoffnung“ und „Verbesserung“ zu konzentrieren. Die vielen Errungenschaften, die mit dieser neuen Haltung einhergingen, von wissenschaftlichem Denken bis zur Emanzipation großer Bevölkerungsgruppen, wurden jedoch auch begleitet von einer Wahrnehmungsverschiebung hin auf Zukunft und Zukünftiges.

Auch „innere“ Transformationsangebote flüchten in die Zukunft

Die von Illouz skizzierte Flucht in eine imaginierte Zukunft, steht jedoch, wie oben skizziert, in einem spannungsreichen Verhältnis zu einer Hinwendung zur Realität, die für wirkliche Transformation notwendig ist. Statt uns so umfassend wie möglich auf die Realität einzulassen und dem Leben dank dieser Bewusstseinserweiterung Raum zu geben, sich selbst zu entfalten, bleiben auch viele gut gemeinte „innere Transformationsansätze“ in der alten Dynamik gefangen.

Wenn eine Bewegung wie die Inner Development Goals, konkrete innere Kompetenzen als „Ziele“ vorgibt, dann ist sie in der gleichen alten Logik gefangen, wie die Kosmetik-Werbung, die uns ein besseres Leben verspricht. Beide sagen: „Hier und heute ist es nicht gut. Wenn du dies machst, wird es besser“. Aber diese Art von Kausalität und Zielorientierung ist in komplexen Umgebungen unrealistisch. Komplexe Umgebungen fordern von uns Ergebnissoffenheit und Experimentierfreude. Während wir uns Schritt für Schritt vortasten, verändert sich das „Ziel“ kontinuierlich. Auch Spiral Dynamics oder andere Entwicklungsmodelle für individuelles Wachstum identifizieren die Gegenwart als defizitär und möchten dabei helfen, möglichst schnell woanders zu sein. In einer umfassenderen, ganzheitlicheren Zukunft.

Abwesenheit ist der Ursprung der Krise

Dabei ist die eigentliche Krise gerade, dass wir NICHT in der Gegenwart anwesend sind. Otto Scharmer hat dafür den Begriff des Absencing geprägt. In den Worten seiner Kollegin Eva Pomeroy ist:

“Absencing (…) a mode of operating that leads to many of the world’s most wicked problems. It is characterized by a series of acts that create and maintain separation: denying and de-sensitizing to the realities of others, closing to collective potential, locating the source of problems outside oneself, and engaging in various forms of violence.“

Wir können Krisen wirksam begegnen, wenn wir uns auf die Aspekte des Lebens, die wir als „schwierig“ oder „gefährlich“, als „Druck“, „Angst“, aber auch als „Taubheit“ wahrnehmen, tiefer einlassen und in uns beheimaten. Die Tatsache, dass bestimmte Aspekte in uns Reibung erzeugen, weist gerade darauf hin, dass wir uns von ihnen distanzieren, uns NICHT auf sie einlassen. An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass „sich einlassen“ und „tiefer sehen“ nicht bedeutet, dass wir etwas gut heißen oder unterstützen. Es bedeutet nur, dass wir eine Beziehung dazu herstellen können und Realität klarer sehen. Wir erliegen nicht mehr der Täuschung unserer Projektionen, sondern werden ent-täuscht.

Innovation erfolgt dann, wenn wir abgespaltene Teile wieder re-integrieren können oder uns mit einer latenten Zukunft verbinden und diesen subtilen Informationsfluss in der Welt manifestieren. Ersteres nennt Thomas Hübl “bottom-up Innovation”, letzteres “top-down Innovation”.

Doch diese Art von aufmerksamer und oft langsamer Auseinandersetzung mit Problemen und Krisen widerstrebt unserem Leistungsparadigma, unserer Zielorientierung und dem eigenen Wirksamkeitsempfinden.

Wie Bettina und ich in dem Blogpost Kompetenzen für die neue Normalität schreiben:

Es geht also zuerst einmal darum, anzuerkennen, was gerade los ist, statt schnell nach einer Lösung zu suchen. Wenn wir uns gemeinsam auf die Herausforderungen einlassen, kann das den gleichen Effekt haben, wie wenn wir verschiedene überhitzte Elektrokreisläufe miteinander verschalten: im Kontakt verteilt sich die Spannung über ein größeres Feld. Im besten Fall entsteht so wieder mehr Raum für den Einzelnen und wir können zugleich unsere Kapazität vergrößern, uns auf das, was gerade schwierig ist, besser einzulassen.

Neue Kontakt- und Verdauungsräume sind somit ein neues (altes) Instrument, mit der Metakrise und unserer aktuellen Malaise besser umzugehen. In ihnen können wir unsere inneren Kapazitäten — physiologisch gesprochen, unser Nervensystem — neu ausrichten, indem wir sie/es expandieren.

Wenn wir davon ausgehen, dass die Welt, so unsicher und komplex, wie sie gerade ist, morgen nicht wieder „einfach“ sein wird, dann müssen wir lernen uns auf ein „neues Normal“ einzustellen. Ein „neues Normal“, das größer ist, als unser „altes Normal“ und insbesondere mehr Information und mehr Spannung beinhalten kann. Das bedeutet nicht, dass wir kapitulieren und uns an die Schieflage anpassen. Sondern vielmehr, dass wir neue Kapazitäten entwickeln, um bewusster hinzuschauen, mehr fühlen, was gerade in uns und anderen passiert, anstatt uns von der Realität durch Konsum oder andere Kompensationsstrategien ablenken zu lassen.

Aus der neuen Verbindung mit Realität entsteht der nächste Schritt.

Welche neue Realität dadurch im Innen und Außen entsteht, wissen wir nicht. Denn es liegt in der Natur von Komplexität, dass wir zuerst experimentieren und Veränderungen wahrnehmen und erst später reagieren und bewerten. Das fühlt sich ungewohnt und unproduktiv, und oft sogar gefährlich an. Es mag auch so erscheinen, als würden wir uns freiwillig noch tiefer in die Malaise eingraben. Und doch erscheint uns dieser Weg als der einzig stimmige. Als unsere beste Chance, zu einer neuen Bewegung zu finden. Raum zu schaffen für neue Ideen und einer tieferen Menschlichkeit. Indem wir uns wirklich auf die Realität einlassen, so wie sie uns gerade erscheint, sind wir in der Lage einen nächsten (gemeinsamen) Schritt zu gehen.

Wie drückt sich all dies konkret in meinem Leben aus?

Die hier skizzierten Hypothesen und Einsichten beeinflussen auch die Art, wie ich mein Leben aktuell gestalte.

So erforsche ich, welche Rolle Fragmentierung und Spaltung in meinem Selbstverständnis spielen. Wo fühle ich mich in meiner Social Change Arbeit (und darüber hinaus) einsam und wirkungslos? Wo werde ich von Menschen, die anders sind als ich, getriggert oder fühle mich taub? Wo muss ich mich von anderen Meinungen abgrenzen und andere Menschen abwerten? Wieviel Realität kann ich in mir aufnehmen, und wo trenne ich mich von der Welt ab? Diesen Prozess habe ich u.a. in diesem Blogpost über eine Therapiesitzung beschrieben. Zugleich studiere ich diese Distanzierungsmechanismen auch im Kreis von Freundinnen.

Je tiefer ich in das Spiegelkabinet von Trennung und Spaltung eintauche, desto bewusster wird mir, wie stark meine Wahrnehmungsfilter die Wirklichkeit verzerren. Aber auch, wie sehr ich den Werten der Leistungsgesellschaft verhaftet bin, mich von Hoffnung leiten lasse und „Leid“ umschiffe. Diese Erkenntnisse haben u.a. dazu geführt, dass ich mich bewusster mit Spannung, Leid und Not als untrennbare Kehrseiten zu Schönheit und Glück beschäftige. Daraus folgt auch, dass ich neue Prioritäten setze und andere Aspekte des Lebens wertschätze. Ich stelle fest, dass ich mich weniger überheben muss (um mich psychologisch zu stabilisieren) und mich andere Menschen interessieren, als zuvor. Zugleich zieht es mich in die Natur. Statt mich hauptsächlich für menschliche Lebensformen und gesellschaftliche Themen zu interessieren, erweitert sich mein Blick auf die “more than human world”, auf Tiere, Pflanzen und Natursysteme — so lese ich gerade An Immense World von Ed Yong über die Sinneswahrnehmungen von Tieren.

Diese Veränderungen bedingen auch, dass Produktivität in meinem Leben eine geringere Rolle spielt als zuvor. Stattdessen wende ich mich vermehrt dem Sein, als anderen Pol des Lebens zu und beschäftige mich mit der Frage, welche Räume es braucht, damit unsere überhitzten und überlasteten Nervensysteme die Realität angemessen verdauen, reflektieren, und auch betrauern können. So richte ich beispielsweise in Kooperation mit dem betterplace lab am 27./28. Februar 2025 den Berlin Hearth Summit aus. Thema: Verbundenheit in einer fragmentierten Gesellschaft (Die Anmeldung dazu hat schon angefangen). In die gleiche Kategorie fällt auch das UnternehmerInnen Netzwerk brafe.space, welches ich seit vier Jahren aufbaue und (seit Frühjahr 2024) die Residency Maison Marcelle in Südfrankreich, in der Aktivistinnen, Künstler und Schriftstellerinnen arbeiten und regenerieren können.

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joana breidenbach
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Written by joana breidenbach

anthropologist, author, social entrepreneur: betterplace.org | betterplace lab | New Work needs Inner Work | Entfaltete Organisation | brafe.space

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