Reflexionen zu Wellbeing, Aktivismus und sozialen Wandel
Auf dem Wellbeing Summit for Social Change 2022 in Bilbao
Die letzte Woche war ich in Bilbao, auf dem Wellbeing Summit for Social Change. Während der ersten 2 Tage trafen wir uns in einer überschaubaren Gruppe von Aktivisten, Sozialunternehmern und philanthropischen Geldgebern, die mit dem Wellbeing Projekt seit seiner Gründung im Jahr 2015 eng verbunden sind. Von Mittwoch bis Freitag gesellten sich um die Tausend weitere Gäste aus insgesamt 60 Ländern zu uns, um sich mit den Themen Innere Arbeit, Wohlergehen, Spiritualität und sozialer Wandel zu beschäftigen. Während der ganzen Woche fühlte sich die Stadt wie ein einziges Festival an, denn neben den vielen Vorträgen auf der großen Bühne im Kongresszentrum Euskaldina und Dutzenden von Workshops in den verschiedensten Museen der Stadt, waren überall extra für die Konferenz beauftragte Kunstwerke errichtet — Videoinstallationen im Guggenheim, Skulpturen auf öffentlichen Plätzen, Klanginstallationen in der Universität, immersive Kunsterlebnisse in Gallerien und Kulturzentren.
Hier möchte ich einige Beobachtungen in Form von kurzen Thesen teilen. Für eine intensivere Beschäftigung mit dem Summit empfehle ich den Besuch der Website mit vielen Videos der Beiträge und Kunstwerke.
- Wellbeing für Changemaker findet im Sektor weltweit Resonanz
Innerhalb wenigen Jahren ist das Thema Wellbeing von einem Nicht-Thema (oder sogar Tabu), in vielen Bereichen des sozialen Sektors angekommen und wird von Changemakern und Aktivisten ernst genommen. Auch zahlreiche philanthropische Geldgeber haben die Bedeutung erkannt und fangen an, sich damit zu beschäftigen und Wellbeing-Initiativen zu finanzieren. Dabei können wir aber auch deutliche Unterschiede sehen: während Hunderte Teilnehmer aus dem globalen Süden nach Bilbao angereist waren und viele große amerikanische und europäische Stiftungen Vertreter geschickt hatten, waren die meisten deutschen Geldgeber nicht vor Ort. Und das, obwohl sie gezielt eingeladen worden waren. Im weltweiten Vergleich scheint das Thema Wellbeing in Deutschland noch wenig Resonanz zu erzeugen. - Wellbeing ist Selbstfürsorge
Unter dem Slogan Wellbeing für Sozialen Wandel verstehen die meisten, dass Menschen, die sich für benachteiligte Gruppen und den sozialen und ökologischen Wandel einsetzen, ihre eigenen Bedürfnisse ernst nehmen und sich um ihre eigene Ressourcierung und Heilung bemühen. Die Kernfrage, die sich stellt ist: wie können wir angesichts der schier übermenschlichen Kaskade an Krisen und begrenzten Ressourcen wirksame Arbeit leisten, ohne selbst völlig auszubrennen? Auf dem Summit wurde die sinnliche, ganzheitliche Erfahrung von Welt zelebriert — gerade auch durch die Fülle von Kunstwerken, Tanz und Musik. Dieser Gebrauch ist etwas breiter, als wir es im betterplace lab fassen: für uns stehen eine Reihe sehr konkreter Wellbeing-Kompetenzen im Zentrum, die wir erforschen und trainieren. Fähigkeiten wie guter Selbstkontakt, emphatische Kommunikation, Beziehungsdynamiken reflektieren, Spannungen halten und in Komplexität navigieren. - Wellbeing ist Beziehung
Ein herausstechendes Merkmal der Konferenz war der Fokus auf Beziehungen und Kollaboration. Dies steht im Gegensatz zu dem weit verbreiteten Mythos der Sozialunternehmerin als einsamer Heldin. Statt Individualismus, Fragmentation und transaktionalem Austausch wurden Interdependenzen, Inter-Being und Co-Creation praktiziert und zelebriert. Kontakt als Gegenmittel zu Vereinsamung, Burnout und Depression.
4. Eine Kultur der Vulnerabilität
Viele Vorträge, aber auch die individuellen Begegnungen unter uns Teilnehmern zeugten von einem neuen Habitus der Verletzbarkeit, Ehrlichkeit und Berührbarkeit. Statt des starken heroischen Einzelkämpfers für soziale Gerechtigkeit wurden unsere Brüche und Verletzungen sichtbar. Dabei stachen die Beiträge von Louisa Zondo und Kumi Naidoo durch ihre Präsenz und Wucht heraus. Beide sind prominente südafrikanische Aktivisten, Führungspersönlichkeiten großer internationaler NGOs wie Oxfam, Greenpeace und Amnesty International. Doch auf der Bühne erzählten sie von ihren psychologischen Verwundungen während des Apartheidregimes, ihren Verdrängungsstrategien und Kämpfen, die tragischerweise in dem Tod ihres Sohnes durch Suizid im Februar dieses Jahres mündeten. Anstatt professioneller Glattheit verkörperten beide die Größe und Tragik der menschlichen Bedingtheit.
5. Die Bedeutung von Spiritualität
Viele Vortragende und Teilnehmer betonten die Bedeutung einer Weltsicht, die über das Materielle hinausgeht und menschliche Tiefe und die großen Lebensfragen direkt mit einbezieht. Ob bei einem Panel mit Vertretern der drei monotheistischen Religionen, Barry Kerzin als Gesandtem des Dalai Lama oder Gospel Chören, die Botschaft war: Wellbeing bedeutet nicht Selbstoptimierung, sondern eine neue Form der Menschlichkeit, des In-der-Welt-Seins, des Fühlens. Von diesem verbundenen Platz aus öffnen wir uns einer unbekannten Zukunft.
6. Transgenerationales und kollektives Trauma
Als wir im betterplace lab vor ein paar Wochen unsere neueste Arbeit zur Desinformation vorstellten und auf die Bedeutung von Traumatisierungen als Wurzel unseres polarisierten Informationssystems hinwiesen, stießen wir oft auf Skepsis und Widerstand. Umso interessanter zu sehen, wie selbstverständlich herausragende Wissenschaftler an US amerikanischen Universitäten mit dem Thema umgehen. So erforscht der Global Think Tank an der Georgetown University in Washington D.C. in Kollaboration mit dem Wellbeing Project die konkreten systemischen Auswirkungen kollektiver Traumatisierungen wie Sklaverei und Genozid. Auch viele andere Beiträge zirkulierten um Verletzung, Diskriminierung und mögliche Formen der Heilung.
7. Eine neue Wirtschaft
Im Hintergrund vieler Vorträge und Diskussionen klang ein fundamentaler Paradigmenwechsel an. Insbesondere unsere Wirtschaft müsse sich von der Maximierung von Shareholder Value verabschieden und sich dem Stakeholder Value zuwenden, der Gesellschaft und Natur mit einbezieht. Wellbeing ist sowohl die Basis, als auch das Ziel dieses Wandels.
8. Der essentielle Beitrag von Kunst
An allen Konferenzorten, sowie in der ganzen Stadt verteilt, fügten extra für diesen Zweck beauftragte Skulpturen, Videos, immersive Räume, (Klang)Installationen, Konzerte und Theaterstücke renommierter Künstler unserer Wellbeing-Erfahrung wichtige, transpersonale, subtile und sinnliche Dimensionen hinzu. Herausragende künstlerische Interventionen illustrieren nicht. Sie sprechen aus dem größeren Raum, den wir gemeinsam erforschen und erschaffen wollen. Sie eröffnen einen visionären Raum. Dazu gehörte für mich Aakash Odedra’s Tanz Performance auf der großen Bühne des Kongresszentrums, ebenso wie das Theaterstück Remember This: The Lessons of Jan Karski, geschrieben und produziert vom Laboratory for Global Performance and Politics an der Georgetown University. Dieses Stück über den polnischen Widerstandskämpfer und Holocaust Zeugen Jan Karski, grandios gespielt von David Strathairn, vermochte es ein Dilemma auf den Punkt zu bringen, welches wir alle spüren: was können wir als Individuen oder kleine Gruppen existentiellen Bedrohungen angesichts der Gleichgültigkeit mächtiger Institutionen entgegenstellen?
9. Times are urgent. Let us slow down.
Die Neurowissenschaftlerin, Künstlerin und Aktivistin Sara King forderte in ihrem Beitrag: “Wenn die Krise sich beschleunigt, müssen wir uns verlangsamen.”
Und genau dies ist mir auf dem Summit nicht gelungen. Die Fülle des Programs erforderte von uns Teilnehmern eine große Portion Selbstfürsorge. Aber ich wollte alles sehen, hören und erforschen. Und war so schlußendlich erschöpft. Zudem wurde ich schmerzhaft mit meinen inneren Dynamiken konfrontiert: ich beobachtete mich dabei, die Programmauswahl und einzelne Beiträge zu dekonstruieren und kritisch auf implizite Machtbeziehungen zu hinterfragen. Wieso dominierten auf einem Kongress in Europa und mit beeindruckend diversen Teilnehmern, Redner aus den USA? Wieso gelang es Beiträgen, die uns zum Spüren und Fühlen einluden, ihre Themen nicht auch zugleich kritisch zu reflektieren — Herzöffnung UND Verstand zu kombinieren? Einer der Moderatoren brachte mich mit seinen lapidaren Kommentaren zur Weißglut. Und vor allem hätte ich mir einen bewussteren Beziehungsraum gewünscht. Wenn über 1000 herausragende, aber untereinander meist unbekannte Menschen aus der ganzen Welt, zum Thema Wellbeing zusammenkommen, tut es gut, behutsame Begegnungen zu weben: beispielsweise durch den Austausch in kleinen Gruppen, wie Gesprächstriaden. Der Beziehungsaufbau, der angeleitet wurde, erschien mir teilweise unpassend. So wurden wir von verschiedenen Entertainern aufgefordert einander eng und intensiv zu umarmen. Klar, Teil meiner Abwehr solch kollektiven Anweisungen nachzugehen, ist auf meine deutsche Herkunft zurückzuführen. Aber auch viele andere Teilnehmer empfanden exzessives Hugging in Zeiten von COVID und Me Too unpassend und unangenehm.
10. Wellbeing Inspires Welldoing
Das Motto des Wellbeing Projects und dieses Summits spricht mir aus Herz und Verstand: nur durch eine tiefgreifende innere Transformation werden wir in der Lage sein, unsere auf Ausbeutung und Trennung basierende Wirtschaft und Gesellschaft so zu gestalten, dass sie regenerativ und verbunden werden.
Es gibt viel zu tun!
Umso mehr freute es mich in Bilbao zwei betterplacer an meiner Seite zu wissen: Anja Adler, Co-Lead für die Wellbeing Projekte im betterplace lab und Björn Lampe, Lead von betterplace.org und Vorstand der gut.org. Vollbetankt mit neuen Impulsen, Kontakten und Erfahrungen, tauschten wir uns aus, wie wir auch in unseren Unternehmungen die inneren Aspekte dieser Transformation noch stärker unterstützen können.