Rückspiegel 2019

2019 war ein Jahr, welches mir gezeigt hat, wie sehr sich Leben entfalten kann, ohne das es einem vorgefertigten Plan, oder einer Strategie folgt. Im erfolgreichen, wie im erfolglosen.

joana breidenbach
8 min readDec 31, 2019

New Work needs Inner Wort startet durch

Zum Jahresanfang startete ich eine Crowdfunding Aktion für ein Manuskript, welches Bettina Rollow und ich über das vergangene Jahr hinweg erstellt hatten. Noch in den Tagen zwischen den Jahren hatte mein Sohn den Text editiert. Kurz darauf drehte sein guter Freund Jonas unser Kampagnenvideo und wir gingen online. Innerhalb von 5 Wochen kamen über 17.000€ zusammen, genug Geld, um (fast) die gesamten Produktionskosten von New Work needs Inner Work zu begleichen (die Crowdfunding Kampagne selbst habe ich hier ausführlicher beschrieben). Das alleine war schon Grund zur Freude, aber nachdem wir das Buch auch auf amazon eingestellt hatten (zuerst noch im Selbstverlag), kletterte es auf den 1. Platz einiger Wirtschafts-Bestsellerlisten und verblieb dort über viele Monate (z.B. hier). Damit einher erreichte uns eine Flut an Dankes-Mails, Anfragen für Vorträge, Workshops und Podcasts. Es schien, als ob unser Fokus auf der inneren Dimension des Transformationsprozesses in der Arbeitswelt ein wirkliches Bedürfnis bediente.

Besonders freute uns, das wir blitzschnell einen Verlag fanden — Vahlen, bei dem auch Laloux’s Reinventing Organisations erschienen war — der das Buch in einer 2. Auflage herausbrachte. Ashoka Deutschland ermöglichte es uns dann auch noch die englische Übersetzung zu erstellen, die seit kurzem als eBook erhältlich ist. Wir fänden es toll, wenn ihr deutschen Leser auch diese Version rezensieren und in euren Netzwerken verbreiteten würdet!

Angeregt durch die vielen Reaktionen und Fragen unserer Leser, begann ich eine New Work Artikelreihe auf Xing zu schreiben, in der verschiedene Themen vertieft werden und die mich unter die 25 Top Minds katapultierte.

Auf diese Weise wuchs ein Projekt, welches als kleine Liebhaberei gedacht und aus dem Wunsch entstanden war, unsere Erfahrungen mit Selbstorganisation systematischer zu teilen, zu etwas, was große Teile meines Jahres prägte. 2020 wird es weitergehen.

Wer Interesse an einer Masterclass hat, der kann sich hier schon mal melden!

Das bUm öffnet seine Tore

Das 2. Thema, welches 2019 manifest wurde, ist bUm, das betterplace Umspannwerk. Im Herbst 2018 angekündigt, konnten wir nach mehreren baulichen Verzögerungen zwar erst im Spätsommer Eröffnung feiern, aber mittlerweile ist das betterplace lab (hier unsere neue Website mit der ganzen Bandbreite an aktuellen Projekten) gut in seinen neuen Räumlichkeiten etabliert und kann sie für die verschiedensten Projekte und Netzwerkaktivitäten nutzen. Betterplace.org derweil ist in unseren alten Räumlichkeiten in der Schlesischen Straße geblieben und hat mich dieses Jahr mit fantastischen Erfolgen, u.a. der neuen Plattform betterplace.me und kreativen Kooperationen (s. hier mit Friendly Fire) erfreut.

Der neue Ort verlockt mich persönlich, die verschiedensten Veranstaltungen, Formate und Experimente dort anzusiedeln. So konnte ich gemeinsam mit Sebastian Baier vom co-Creation Loft den Benediktushof, einen der vitalsten Retreatcenter in Deutschland, für eine Kooperation gewinnen und seit November bieten Zen-Lehrer im bUm 2 mal wöchentlich Zazen an. (Kommt gerne vorbei: die Meditationen finden jeweils am Di. von 9–10 und Do von 17:30–18:30 statt). Der gleiche Meditationsraum dient in der sonstigen Zeit als New Work Präsenzraum: hier möchten wir herausfinden, wie Meetings regenerativer und co-kreativer werden können.

Die Location mitten in Kreuzberg inspiriert uns zu allen möglichen neuen Projekten. So organisierte ich beispielsweise gemeinsam mit Hanno Burmester vom Progressiven Zentrum den ungewöhnlichen Abend „Ratlosigkeit und Radikalität. Ein intimes Experiment“.

Hanno und ich hatten uns über das ganze Jahr hinweg immer wieder zu Stadt-Spaziergängen getroffen — z.B. in der Weißen Stadt oder der Autobahnüberbauung Schlagenbader Straße — um über die Bedeutung von Radikalität in unserem Leben zu sprechen. Dabei wurde schnell deutlich, das uns insbesondere die immer düsteren Umweltprognosen ratlos zurückließen. In einem Durchlauf hatte ich The Uninhabitable Earth, Wann wenn nicht wir, und There is no Planet B (letzteres von Mike Berner’s Lee fand ich besonders gut) gelesen, ein Wochenende mit Youtube Videos von ER verbracht und Veranstaltungen von denselben in Berlin besucht. Zum ersten Mal (erschreckend einzugestehen) belastete die drohende Klimakatastrophe meinen sonst so optimistischen und potentialorientierten Blick auf die Welt. Angesichts der scheinbaren Paralyse von Politik und Wirtschaft, fragte ich mich grundsätzlicher als je zuvor, ob ich meine Zeit mit den richtigen Hebeln verbrachte.

Diesen Diskurs verbreiterten wir nun mit Gästen wie Maja Göpel und Patricia Nanz. Alle Teilnehmer hatten die Gelegenheit an eines von drei Mikrophonen zu gehen, und ihre inneren Stimmen zu “Angst”, “Radikalität” und Hoffnung/Spiritualität” im geschützten Raum zu testen. In unserer Erfahrung unterdrücken gerade viele “Macher” diese Stimmen, da sie der eigenen Wirksamkeit vermeintlich im Wege stehen.

Drei innere Stimmen

Viele verschiedene Menschen traten zuvor und teilten ihre Perspektiven und Befindlichkeiten. Es stellte sich heraus, dass es uns nicht einfach fällt, aus einem wirklich tieferen Platz in uns zu sprechen und Emotionen zu teilen. Stattdessen verblieben wir öfters im blaming&shaming Modus. Ein gemeinsamer Nenner war jedoch die Überzeugung, dass es wichtiger denn je ist, auch im öffentlicher Raum als “ganzer Mensch” aufzutreten und die Schablonen und Konventionen etablierter Foren mit mutigen, ehrlichen und auch kontroversen Beiträgen zu sprengen. Viel Raum nahm auch die Frage nach der Bedeutung von zivilem Ungehorsam ein. Mit letzterem hatte ich 2019 eine Reihe von inspirierenden Begegnungen, da mein Mann und ich mehrere Wochen verschiedene junge Extinction Rebellion Mitglieder bei uns beheimateten und in ihre Welt des Widerstands eintauchen konnten.

Ebenfalls im bUm organisierte ich zwei weitere Veranstaltungen unserer Reihe rund ums Thema Digital Wellbeing, die Siena Powers in der Publikation The Digital Table dokumentiert hat. Aus einer Metaperspektive fasziniert mich der bUm als Co-Working Ort, in dem wir neue Formen der Identität, Zusammenarbeit und Solidarität erforschen können. Im Zuge der Verflüssigung der digitalen Welt (siehe dazu auch meinen Artikel Alles was fest ist, schmilzt in der Luft) lösen sich alte Formen der Sicherheit und Zugehörigkeit auf; statt fester Arbeitgeber finden sich immer mehr Menschen als Teil der Gig-Economy wieder, an die Stelle von etablierten Institutionen treten kurzfristigere Netzwerke etc. Damit müssen wir auch viele sozialen Institutionen, wie Krankenkassen, Gewerkschaften und Rentenwesen, neu denken und organisieren. Im bUm haben wir die Chance, herauszufinden welche Bedürfnisse und Interessen, Werte und Normen unsere digital-globale Gesellschaft leiten und prägen. Welche sozialen Innovationen braucht es, um Leben für möglichst viele Menschen wertvoll und würdig zu machen?

Innovations-Exploration im Das Dach

Im Das Dach, meinem anderen neuen Büro, haben wir uns 2019 ebenfalls mit diesen Fragen beschäftigt und in einer Reihe von Artikeln dokumentiert. Mit meinen Mitgründern Bettina, Mike und Stephan (ergänzt durch Tina Egolf) entwickelten wir während eines Sommerretreats in La Haute Carpenee einige Grundbausteine und Leitplanken für Innovationen, die einen wirklichen gesellschaftlichen und ökologischen Mehrwert erzeugen können. Bettina und ich setzen diese Erforschung im Rahmen einer losen Gruppe von Unternehmerinnen und Facilitatoren fort, die sich alle mit „bedeutsamen Innovationen“ beschäftigen. Dabei gehen wir beispielsweise den Unterschieden zwischen horizontal-additiven und vertikal-emergenten Innovationen auf den Grund.

Und ein bedauernswertes Ende

In diesem Zusammenhang möchte ich auch ein Unternehmung nennen, welches 2019 leider nicht den erwarteten Erfolg hatte: in den letzten 2 Jahren hatte ich mich vermehrt für Carbon Loop Technologies eingesetzt. Das Unternehmen wurde gegründet um Pflanzenabfälle kostengünstig in hochwertige Pflanzenkohle zu verwandeln, die u.a. in der Landwirtschaft für Tiergesundheit und Regeneration ausgelaugter Böden eingesetzt wird.

Obwohl wir Anfang des Jahres sowohl einen engagierten grünen Investor und einen hervorragenden Geschäftsführer gefunden hatten, konnten wir die Kosten für die technische Entwicklung der Pflanzenkohleanlage nach mehreren Konstruktionskomplikationen nicht mehr aufbringen. Die Technologie wird zwar weiter entwickelt, jedoch nicht mehr im Rahmen der CLT und ohne meine Beteiligung. Im Rahmen dieser Entwicklung verzweifelte ich 2019 öfters an den fehlenden Finanzierungen für innovative ökologisch-soziale Unternehmen, während zur gleichen Zeit Unmengen Geld in völlig unnachhaltigen Elektroschrott oder sinnentleerte digitale Anwendungen fließt, schlichtweg, weil sie die höhere Rendite versprechen.

Being Underwater

Die Rückblende wäre nicht vollständig, ohne Being Underwater, meinen neuen Podcast. Gemeinsam mit der Produzentin Siena Powers nahm ich in einer englischen beta-Phase Gespräche mit Menschen auf, die eine konkrete innere Praxis haben — Meditation und Kontemplation, Selbsterfahrung, Therapie und Kreativität — und über ebendiese Erforschung ihres Innenlebens mit mir sprechen. Dabei geht es auch darum, wie wir in einer rasant sich verändernden Welt nicht untergehen, sondern Orientierung und Klarheit finden können. Meine Hypothese ist, das dies zunehmend nur gelingt, wenn wir einen guten Selbstkontakt haben und mit unserem Inneren äußere Unsicherheiten flüssig navigieren können.

Ein persönliches Highlight ist die gerade erschienene Episode mit Jake Jones. Hört doch mal rein und schreibt mir, was ihr davon haltet! Für 2020 planen wir eine weitere Staffel, diesmal auf deutsch.

Machen und Sein

Gegen Ende des Jahres beobachtete ich in mir eine immer größere Atemlosigkeit (denn außer den hier erwähnten Projekten gibt es noch zahlreiche andere …). Viele meiner eigentlich spannenden Aktivitäten brachten mir nicht mehr die gleiche Freude. Als frustrierend erwiesen sich gerade solche Projekte, für die mir die notwendigen unterstützenden Strukturen fehlen. Mein Traum wäre ein kleines Team, mit dem ich neue Formate und Inhalte entwickeln könnte, statt als One-Women-Show viele verschiedene Dinge gleichzeitig voranzutreiben.

Ohne einen Mäzen für solch einen Zukunfts-Reaktor in Sichtweite, wünsche ich mir für 2020 mehr Fokus und ja, Radikalität. Immer mehr schält sich heraus, dass mich die Wechselbezüglichkeiten zwischen äußerer und innerer Transformation (so auch schon der Titel meines letzten Jahresrückblicks 2018) faszinieren. Dabei gelingt es mir in meinem Alltag noch zu wenig, beide in guter Balance zu halten. Viel zu oft erlebe ich mich als reaktiv und sozial konform. Ich nehme zu viele Einladung an, treffe zu viele Menschen und starte zu viel Neues. Das fühlt sich zwar gut an, da es oberflächlich meine inneren Spannungen befriedet, ist mittlerweile aber nicht mehr stimmig. 2020 möchte ich weniger breit und dafür tiefer gehen.

Auch merke ich, wie gut mir etwas “abseitige” Dinge tun. Z.B. bin ich seit neuestem im Frauen-Ruder-Club Wannsee und freue mich schon wahnsinnig aus dem Ruderkasten raus aufs freie Wasser zu kommen. Ich habe hier Buchbinden gelernt, gehe viele lange Strecken zu Fuß, die ich früher gefahren wäre und war 2019 so viel im Theater, Oper und Konzert wie wahrscheinlich in keinem Jahr zuvor. Vor allem aber genieße ich meine Aufenthalte in unserem Haus in La Haute Carpenee. Dieses Jahr fanden dort wieder zwei Künstlerresidenzen statt: Thomas Kiesewetter (zum 2. Mal) und eine Kuratorinnengruppe um Office Impart. Diese Zeilen schreibe ich ebenfalls in der südfranzösischen Sonne.

Skulptur von Thomas Kiesewetter in La Haute Carpenee

Zum Schluß möchte ich noch ein paar Menschen danken, die für mein Jahr 2019 besonders wichtig waren. Da ist an erster und zweiter Stelle immer meine Familie, Lilian, Vico und Stephan. Hier ist unser diesjähriges Weihnachtsfoto — wer uns nicht so gut kennt, den möchte ich auf die subtil ironische Note aufmerksam machen.

Styling: Almut Vogel, Photographie: Phil Engelhard

Bettina danke ich für die vielen spannenden Impulse rund um unsere Arbeit, Tina für ihre spontane Unterstützung in schwierigen Zeiten, dem betterplace lab Team für seine Fähigkeit sich kontinuierlich zu verändern, Siena für die freudvolle Zusammenarbeit, und Ben (u.a.) für viele inspirierende Buchempfehlungen. Zudem danke ich allen, die mir und meinen Projekten dieses Jahr so viel Interesse und Offenheit entgegen gebracht haben und mich damit anspornen immer weiter zu gehen. Judith hat sich dieses Jahr leibevoll um LHC verdient gemacht und un très grand merci appartient à Jo Ferrante, qui ne cesse d’embellir ma vie avec ses nombreuses petites attentions.

Adieu 2019, bienvenue 2020!

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joana breidenbach

anthropologist, author, social entrepreneur, co-founder of betterplace.org and betterplace lab, more recently New Work needs Inner Work