Der brafe.space Ansatz

Vor zwei einhalb Jahren gründete ich mit Freunden eine neue Organisation: brafe.space. Bislang habe ich dazu nur wenig öffentlich geteilt, denn brafe.space ist ein sehr offenes Experiment und es erschien mir kontraproduktiv den damit einhergehenden Prozess schriftlich festzuhalten. Doch mittlerweile haben wir innerhalb unserer Gründungsgruppe eine konkretere Vorstellung davon was brafe.space ist und was es auch nicht ist. Deshalb beschreibe ich in diesem Blogpost unseren Anfangsimpuls, unsere Theory of Change und Herangehensweise. Der Text basiert auf zwei Inputs, die ich bei dem diesjährigen brafe.space Camp (September 17. -19) gehalten habe, zu dem eine sehr diverse Gruppe aus 100 Gründerinnen, Aktivistinnen, Investorinnen etc. auf Gut Boltenhof in Brandenburg zusammenkam und gemeinsam das Thema “Geben und Nehmen” erforschte.*

joana breidenbach
9 min readSep 23, 2023

Bei brafe.space haben wir eine Mission. Sie lautet: Raum für Unternehmer schaffen, um sich selbst, ihre Organisationen und die Gesellschaft weiterzuentwickeln.

brafe.space Camp 2023

Unser Anfangsimpuls
Unser anfänglicher Impuls, uns als (inzwischen 8) Mitgründer und Mitgestalter zusammenzuschließen, war ein doppelter: Wir hatten alle negative Erfahrungen mit schlechter Führung, ungesunden Organisationskulturen und übergriffigen Geldgebern gemacht. Aber wir hatten auch das Gegenteil erlebt: ermächtigende und dezentrale Führung, ganzheitliche Unternehmenskulturen und co-kreative Dialoge zwischen Gründern, Geldgebern und Partnern. Auf der Grundlage dieser positiven Erfahrungen fühlten wir uns inspiriert, neue Formen des Unternehmertums und der Innovation zu entwickeln und zu unterstützen. Wir wollten erforschen, was es bedeutet, eine andere Art von Unternehmer zu sein, lebendige Organisationen zu gestalten und einen sinnvollen und effektiven Beitrag für die Welt zu leisten.

Unser Verständnis des Status quo
Wenn wir auf unser eigenes Leben schauen und uns in der Welt umsehen, stellen wir vor allem eines fest: wir sind so beschäftigt wie nie zuvor, aber zugleich völlig festgefahren im Status Quo. Ivo Mensch hat diesen Zustand jüngst in einem Artikel als “frantic inertia”, also als “rasende Trägheit” bezeichnet. Viele von uns erleben das Paradoxon, dass es zwar viel Bewegung und Aktivität gibt, dies aber oft zu wenig oder gar keinem Fortschritt oder Wandel führt. Wir sind hyperaktiv und stecken doch fest. Wir folgen einem unaufhörlichen Drang nach mehr — mehr tun, mehr erreichen, mehr kaufen, mehr wissen, mehr kommunizieren. Aber all das führt nicht zu substanziellem Handeln, tiefer Erfüllung oder einer besseren Gesellschaft.

Stattdessen sind wir mit einer Reihe von Metakrisen konfrontiert — auf allen Ebenen. Auf globaler Ebene haben wir die Klimakatastrophe, aber auch jede Menge anderer drohender existenzieller Risiken, die niemand kontrollieren kann, von Biowaffen bis hin zum Aufkommen neuer Formen der künstlichen Intelligenz. Auf gesellschaftlicher Ebene sehen wir — unter anderem — eine immer stärkere Fragmentierung und Polarisierung, den Aufstieg autoritärer Regime und eine alarmierende Demokratiemüdigkeit. In der Arbeitswelt, z.B. in der Gig Economy, herrscht ein oft perverses Maß an Ausbeutung, aber auch in vielen herkömmlichen Betrieben sind die Mitarbeiter und Führungskräfte demotiviert und ausgebrannt. Und schließlich sind wir auf individueller Ebene mit einer Flut von Symptomen konfrontiert: von einer regelrechten Einsamkeitsepidemie und dem rasanten Anstieg mentaler Krankheiten bis hin zu einer allgemeinen Atmosphäre der Erschöpfung, Wut und Traurigkeit.

Doch trotz unserer hektischen Aktivitäten scheinen wir nicht in der Lage zu sein, auf all diese realen Gefahren adäquat zu reagieren.
Wir gehen davon aus, dass das Feststecken ein Symptom des Wandels ist, dass eine alte Welt zu Ende geht — das Industriezeitalter, das sich um Nationalstaaten und Werte wie Produktivität und Hyperindividualismus drehte — und eine neue Welt um ihre Entstehung ringt. In einem solchen Übergang sind unsere Bemühungen, die Welt mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu “verändern” oder gar zu “retten”, zum Scheitern verurteilt, denn: Wie könnten wir die Probleme, die durch unsere derzeitige Art zu denken, zu sein und zu handeln entstanden sind, mit demselben Instrumentarium lösen? Natürlich brauchen wir ein Update unserer Werkzeuge, neue Denkmuster, neue Wege des Seins und Handelns.

Die Frage, die wir uns im brafe.space stellen, lautet: Wie können wir als Unternehmerinnen — sowohl gewinnorientiert als auch gemeinnützig, als Geldgeber und Gründerinnen — etwas wirklich NEUES hervorbringen? Welche produktive Rolle können wir bei dem tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel spielen?

Unsere Theory of Change — Inkludiere mehr
Als wir brafe.space im Frühjahr 2021 gründeten, waren wir davon überzeugt, dass unsere Welt in ihrem desolaten Zustand ist, weil wir ganze Bereiche der Realität ignorieren und exkludieren. Doch die Wirklichkeit ist ganz und alle Teile wollen gesehen und einbezogen werden, sonst zeigen sie sich in Spannungen, Pathologien und Krisen.

Wir gehen davon aus, dass wir große Teile von uns als Individen exkludieren— vor allem unsere verletzlichen und zarten Teile. Wenn wir diese aber nicht anerkennen, einbeziehen und wertschätzen, suchen sie uns in Form von Depression, Wut und Leere heim.

Wir (und dieses “wir” bezieht sich auf privilegierte Menschen wie mich) haben große Teile der Gesellschaft ausgegrenzt — im Grunde alle, die nicht in das Narrativ der weißen, leistungsorientierten, männlichen Mittelklassegesellschaft des Mainstreams passten. Zu den Ausgeschlossenen gehören: People of Color, Frauen, Menschen aus “unteren” Gesellschaftsschichten, mit körperlichen oder geistigen Behinderungen. Aber wir alle zahlen einen Preis für diese Ausgrenzung. Die Exkludierten in Form von Armut und Leid, Verzweiflung und Scham. Die Privilegierten (ein weitaus geringerer Preis) in Form von Gefühllosigkeit und emotionaler Leere, die damit einher geht, wenn sie/ wir anderen Menschen (oft unabsichtlich und unbewusst) Schaden zufügen.

Und natürlich haben wir große Teile der Natur von unseren politischen und wirtschaftlichen Prozessen ausgeschlossen. Wir haben vergessen, dass wir die Natur SIND, und haben stattdessen unsere Umwelt in einer noch nie dagewesenen Weise ausgebeutet und zerstört.

Aber was können wir tun, um dieser Ausgrenzung entgegenzuwirken? Im Gegensatz zu unserer ersten Reaktion besteht das Gegenmittel zur Ausgrenzung nicht in der Einbeziehung, sondern in einer tieferen Anerkennung der Ausgrenzung. Denn Exklusion ist so tief in unserer (Mainstream-)Identität verwurzelt, dass wir sie mit “Normalität” verwechseln. Wir sind wie Fische im Wasser, die nicht erkennen, dass Wasser eine ganz besondere Substanz ist (siehe Derek Foster Wallaces wunderschöne Eröffnungsrede von 2005 “This is water”).

Im brafe.space erforschen wir, in was wir sitzen und leben. Wie Ausgrenzung in uns wirkt. Wir fragen: Was ist meine aktuelle Erfahrung? Worauf kann ich mich beziehen — in mir selbst, auf andere, in der Welt? Und was muss ich ausschließen (weil es mein Gefühl von Identität/Sicherheit usw. bedroht)? Was muss ich auf Distanz halten, negativ beurteilen? Diese Erforschung erfordert großen Mut, denn wir haben das Abgestoßene, Ausgegrenzte ja nicht verlassen, weil es so schön und angenehm ist, sondern weil dort das Leid und der Schmerz sitzt.

brafe.space Camp 2023

Unsere Methode der Veränderung — Ich-Perspektive
Um die Dynamik von Exklusion und Inklusion zu erforschen, experimentieren wir mit einem sehr spezifischen Ansatz: Wir gehen von ersten Prinzipien aus. Wir glauben, dass wir mit unserer eigenen Seinserfahrung beginnen müssen, um uns, unsere Organisationen und die Welt wirklich neu zu denken und etwas Neues zu schaffen.

Wenn wir zusammenkommen, diskutieren wir also nicht über Wirtschaftstheorien oder soziale Gerechtigkeit, sondern teilen unser eigenes Gefühl für die Welt. Obwohl wir unsere mentalen Modelle und unseren scharfen Verstand zutiefst lieben, sind wir ebenso daran interessiert, was wir fühlen und empfinden. Wir versuchen, Zugang zu unseren eigenen “Rohdaten” zu finden — körperlich, emotional, geistig und spirituell.

Deshalb bitten wir die Menschen, sich mit uns auf ein Experiment einzulassen: unsere normale Art der Interaktion auszusetzen, langsamer zu werden, unsere Aufmerksamkeit sanft von unserem wunderbaren Verstand weg zu lenken und stattdessen unseren Körper, unsere Gefühle und andere Arten des Wissens zuzulassen. Man könnte auch sagen, dass wir versuchen, nicht “über” etwas sprechen, sondern “aus uns heraus”. Das fühlt sich zuerst oft seltsam an, denn das Sprechen aus dem Inneren ist meist langsamer und nicht so ausgefeilt. Aber anstatt abgedroschene Phrasen zu wiederholen, versuchen wir uns selbst zu überraschen: mit neuen Einsichten, die sich frisch und wahr anfühlen.

Für diesen Ansatz gibt es einen ganz konkreten Grund: Unsere erweiterte gefühlte Erfahrung der Welt ist eine erstaunliche Ressource, um etwas Neues zu schaffen. Um zu völlig neuen Einsichten und Denkmustern zu gelangen. Unser Selbstkontakt und eine tiefere Selbstwahrnehmung unserer Bedürfnisse und Sehnsüchte, unserer tiefen Interessen und Werte können uns helfen abgespaltene, externalisierte Anteile wieder zu beheimaten. Sie sind die Grundlage für neue radikale Wege des Seins und Handelns, die mehr dem entsprechen, was wir als Individuen und als Gesellschaft sind.

Zwei Superpowers: Beziehungsfähigkeit und Multiperspektivität
Bei brafe.space konzentrieren wir uns auf 2 Kompetenzen: 1. eine tiefere Beziehung zu uns selbst und 2. eine tiefere Beziehung zu anderen und die Fähigkeit, mehrere Perspektiven einzunehmen.

Warum interessieren wir uns dafür, wie mit uns selbst tiefer in Beziehung zu treten? Nun, es ist eigentlich ganz einfach: Unser Körper und unsere Sinne sind unsere Tore zur Welt, sie sind die einzigen Wissensinstrumente, die wir haben. Das bedeutet aber auch, dass ich nur dann etwas in der äußeren Welt wahrnehmen kann, wenn ich die Fähigkeit habe, es in mir selbst zu erfahren. Wenn ich keine Traurigkeit oder Wut empfinden kann, kann ich sie auch nicht in der Welt sehen. Deshalb sind wir zutiefst daran interessiert, unsere Fähigkeit zu fühlen und in Beziehung zu treten zu erweitern — denn nur wenn wir mehr fühlen und uns auf mehr in der Welt beziehen können, werden wir in der Lage sein, ganzheitliche, wirksamen Lösungen, Geschäftsmodelle, Unternehmenskulturen, Aktivismusstrategien oder was auch immer uns interessiert, zu entwickeln, die mit größeren Teilen der Welt, eben auch mit den bislang ausgegrenzten, in Resonanz treten und sie einbeziehen können.

Wir erforschen auch die Schnittstelle zwischen uns selbst und den Dingen, die wir in der Welt zu gestalten und zu verändern versuchen. In welcher Beziehung stehe ich zu ihnen und welche weiterreichenden Auswirkungen habe ich mit meinem Verhalten und meinen Handlungen?

Es ist recht einfach, sich auf etwas zu beziehen, das einem selbst ähnlich ist. Die wirklich interessante Frage ist also: Wie gehe ich mit Unterschieden um? Wie gehe ich mit der Perspektive eines Mensch um, die meiner eigenen diametral entgegen gesetzt ist? Für uns ist Multiperspektivität eine unabdingbare Voraussetzung dafür, Strukturen und Prozesse zu schaffen die nicht nur für eine kleine Nischengruppe passen, sondern auf eine komplexe, vielschichtige Welt abgestimmt sind.

Eine Denkweise der Entfaltung
Und noch eine Besonderheit zeichnet unser Vorgehen aus: Wir versuchen keine im voraus bekannten Ziele und Resultate zu erreichen. So sehr wie wir an tatsächlichen Veränderungen interessiert sind, glauben wir nicht, dass man die Zukunft aus der Vergangenheit ableiten kann. Wir versuchen, uns von festen Vorstellungen die Zukunft betreffend zu lösen. Wir haben zwar eine konkrete Absicht — mehr inkludieren! — aber bewegen uns auf sie Schritt für Schritt zu. Wir gehen davon aus, dass die Zukunft sich durch uns entfaltet. Dass der gegenwärtige Moment, die radikale Präsenz, ein evolutionäres Potenzial birgt, zu dessen Entfaltung wir beitragen können.

Wir kommen nicht zusammen, um uns eine ideale Welt vorzustellen — dort draußen, in der Zukunft. Veränderung kommt nicht daher, dass ich irgendwo anders bin, sondern dass ich ganz hier bin, in der Gegenwart.
Während wir uns also tiefer mit uns selbst verbinden und unsere Beziehungen zueinander erforschen, setzen wir uns gleichzeitig mit den breiteren sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen auseinander, deren Teil wir sind. Und während wir uns verändern, verwandeln wir auch diese Strukturen. Dabei verabschieden wir uns von alten Ideen, die uns nicht mehr dienen. Wir entwerfen und erproben neue Strukturen und Prozesse, die besser an die Dynamik unserer aktuellen Realität angepasst sind.

Ein Ort fürs Nicht-Handeln, um besser zu handeln
Prozesse wie diese brauchen Zeit und Raum. Nichts entfaltete sich schneller, wenn wir daran schieben oder ziehen. Deshalb schaffen wir bei brafe.space in erster Linie einen RAUM zum Fühlen, Spüren, Sein, Denken. Wir widerstehen dem unternehmerischen Automatismus, sofort zu handeln und zu gestalten. Ja, wir wollen handeln, aber erst, nachdem wir frische und relevante neue Erkenntnisse erhalten haben, die ein hohes Potenzial haben, etwas zu bewegen. Wir sind nicht an Produktivität um ihrer selbst willen interessiert, sondern warten darauf, dass sich sinnvolle Handlungen ergeben. Ja, wir wollen neue Strukturen und Prozesse manifestieren. Ja, wir wollen den Fluss der Ressourcen in unseren unternehmerischen Ökosystemen verändern. Aber erst, nachdem wir wirklich neue Informationen von uns selbst, voneinander und der Welt erhalten haben. Alles andere wäre nur eine Verlängerung einer Vergangenheit, die den Herausforderungen, vor denen wir stehen, und der Sehnsucht, die wir empfinden, nicht mehr gerecht wird.

Ich persönlich habe in den letzten Jahren gelernt, dass meine Zukunftsorientierung und meine ständige Suche nach der nächsten Aktivität ein Zeichen dafür ist, dass es mir schwer fällt, in mir zu sein. Das ich vor den vielen schmerzhaften Gefühlen und verlassenen Lebensbereichen in mir fliehen. Mehr und mehr verstehe ich, das das Werdende in mir ist, nicht vor mir.

Wie es der nigerianische Philosoph und Dichter Bajo Akomolafe so treffend formuliert: Die Zeiten sind dringend, also lasst uns langsamer werden.

  • Dieser Artikel erschien zuerst in Englisch und etwas angewandelter Form im brafe.space Blog.

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joana breidenbach

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