Vergesst Ziele - Folgt Eurem Interesse!
„Stell Dir vor Du verbringst einen Tag ohne Ziele und machst nur das, wofür Du Dich jetzt gerade, in diesem Moment, interessierst“.
Sollte eigentlich nicht so schwer sein, und doch … hier bin ich im südfranzösischen La Haute Carpenee und der Satz springt mir ins Gesicht, denn er verweist auf ein mir nur zu geläufiges Dilemma. Wie jeden Sommer ringe ich um die Balance zwischen meinen vielen Projekten, mit ihren teils fremd-, teils selbstgesteckten Zielen, und dem entspannten In-den-Tag pendeln. Wobei letzteres meist zu kurz kommt.
In dieser Situation fällt mir wie zufällig das Buch mit dem obigen Zitat in die Hand: Why Greatness Cannot Be Planned. The Myth of the Objective, von zwei Professoren für Künstliche Intelligenz, Kenneth O. Stanley und Joel Lehman. Kaum angefangen, lese ich es in einem Zug durch und empfehle es hiermit allen Menschen, die im Leben nicht nur kleine, sondern große Schritte gehen wollen.
Zielgerichtete Planung verhindert bahnbrechende Innovation
Es ist eine überzeugende Streitschrift gegen die überall herrschende Annahme, wir müssten uns nur die richtigen Ziele setzen und schon würden wir eine erfolgreiche Karriere haben, großartige Unternehmen aufbauen, drängende gesellschaftliche Probleme lösen und wegweisende Innovationen hervorbringen können. Diese Haltung begegnet uns auf Schritt und Tritt: kein Forschungsvorhaben, kein Entwicklungsbudget wird genehmigt, wenn es nicht klare Ziele vorweisen kann. Viele Eltern in meinem Freundeskreis knüpfen die Finanzierung ihrer Kinder daran, dass diese eine zielgerichtete Ausbildung absolvieren. Dating-Websites fragen die Ziele der Partnersuchenden ab, um diese besser miteinander matchen zu können. In der Wirtschaft, im Bildungswesen, ebenso wie im sozialen Sektor werden Zielvorgaben gemacht um Leistungen zu normieren und zu steigern.
Doch diese ganze Ausrichtung auf Ziele, die mit konsequenten Planschritten zu erreichen und mit den richtigen Kennzahlen zu messen sind, entpuppt sich als große Schimäre. Denn, so legen Stanley und Lehmann anhand von vielen Beispielen schlüssig dar, große Ziele lassen sich in komplexen Systemen nicht planen. Zielgerichtete Planung funktioniert sehr wohl für alltägliche, bescheidene Verbesserungen — eine Gewinnsteigerung um 10%, das Software Upgrade von 2.0. auf 3.0., die nächst bessere Schulnote. Für alle wirklich wegweisenden, bedeutsamen Entwicklungen und Erfindungen sind fest gesetzte Ziele jedoch nicht nur unnötig, sondern sogar völlig kontraproduktiv.
Große Würfe, sei es im Bereich der technologischen Innovation, sozialer Ideen, Kunst oder individueller Lebensplanung, sind unvorhersehbar und damit unplanbar. Alle bedeutsamen Entwicklungen entstehen aus den unvorhersehbaren Kombinationen von Elementen aus meist ganz anderen Lebensbereichen. Daraus folgt, dass die einzelnen Trittsteine, die zu etwas bahnbrechend Neuem führen, nie so aussehen wie dieses Neue. Einzelne Innovationen tragen in sich keinen Hinweis darauf, wofür sie mal später verwendet werden.
Als im 18. Jahrhundert Vakuumröhren erfunden wurden, wäre es niemandem in den Sinn gekommen, dass diese 1946 in den ersten Computer einfließen könnten. Die Bauern, die im 19. Jahrhundert ihre Jobs in der Landwirtschaft verloren, konnten nicht ahnen, dass ihre Nachfahren Yogalehrer und Social Media Manager werden würden. Ebenso wenig war vorhersehbar, dass der Flachwurm ein maßgebliches Sprungbrett für die Evolution des Menschen sein würde.
Festgeschriebene Ziele sind Hindernisse auf dem Weg zu bahnbrechenden Innovationen und Entwicklungsschritten. Denn sie suggerieren einen falschen Entwicklungsprozess: sie gehen davon aus, dass Zukunft planbar ist. Aber Neues entsteht in einem unendlich großen „Suchraum“. Die Zukunft ist keine lineare Fortschreibung der Vergangenheit, sondern ein völlig offenes Feld. Innerhalb dieses Suchraumes orientieren wir uns, indem wir von einem Trittstein (Entdeckung) zum nächsten gehen. Dabei weiß niemand, welches der nächste ist und welche Kombination zu welchem Ergebnis führt. (Eine Ausnahme sind die großen Entdeckungen, die nur noch einen Trittstein entfernt sind, wie die Erfindung des Flugzeugs durch die Gebrüder Wright.
So kontraintuitiv es klingen mag; der beste Weg Großes zu erreichen, ist aufzuhören spezifische Ziele zu setzen. Stanley und Lehman geben unzählige konkrete Beispiele dafür, dass Ziel-orientierte Suchen zu wesentlich schlechteren Ergebnissen führen als Suchen ohne Ziele. Die ursprüngliche Inspiration für ihre Thesen stammte aus einem Computerprogramm, welches sie für Forschungszwecke angelegt hatten. Picbreeder ermöglichte es Usern aus einer Unmenge von Bildern neue zu generieren. Dabei stellten die Wissenschaftler überrascht fest, dass alle besonders erfolgreichen und originellen Bilder, aus visuellen Elementen entstanden, die keinerlei Ähnlichkeit mit dem Endprodukt hatten. So basierte ein sehr originelles Bild von einem Außerirdischen auf einem Ausschnitt von einem Bild welches einen Sportwagen zeigte — die Räder des Autos wurden über eine Iteration von einem guten Dutzend Schritten zu den Augen des Alien.
Zielgerichtete Planung ist, so die Autoren, ein falscher Kompass. Ziele sind hochbeliebt, suggerieren sie uns doch Sicherheit in einer hoch komplexen Welt. Aber da sie der Logik von Innovation in komplexen Systemen diametral entgegengesetzt sind, tun wir gut daran auf sie zu verzichten.
Schatzsucher statt Zieleverfolger
Aber sind wir damit dazu verdammt ziel- und orientierungslos herumzustochern? Ganz im Gegenteil: wir müssen nur einem anderen Vorbild folgen; dem der Schatzsucherin. Diese zieht los um einen Schatz zu finden (ein erfülltes Leben, eine bahnbrechende Innovation etc.), aber sie gibt nicht vor zu wissen, was sie finden wird. Sie folgt dabei einem Wert, der banal klingt, in Wirklichkeit aber sehr tief ist: ihrem Interesse. Jeder Mensch interessiert sich für bestimmte Sachen mehr und für andere weniger. Wenn wir „Interesse“ als Kompass für unsere Suche nach Neuem nehmen, gelangen wir von einem Trittstein zum anderen und erweitern die Chance neue Zusammenhänge zu verstehen, bahnbrechende Innovationen und bedeutsame Erfahrungen zu machen.
Schatzsucher vertrauen ihrem individuellen Sensor, der sich von dem anderer Menschen meist stark unterscheidet. Das ist gut so, denn nur aus dieser Vielfalt heraus identifizieren wir genügend verschiedene Trittsteine, die zu neuen Entdeckungen kombiniert werden können.
Die vermeintlich rationale Zielorientierung unserer Gesellschaft behindert aber nicht nur Spitzenleistungen. Sie nivelliert und lähmt auch ganze Gesellschaften durch die Ausrichtung aus Tests und genormte Ziele. Stanley und Lehman zeigen überzeugend welchen Schaden die verwendeten Standardisierungen und Metriken im Bildungssystem anrichten. Auch wenn die Leistungsmessungen von Lehrern und Schülern gut gemeint sind, führen sie unweigerlich zur Verschlimmerung des Bildungsniveaus: Lehrer unterrichten auf Tests hin, die Vielfalt bestehender Interessen wird standardisiert, individuelle Potentialentfaltung eingeschränkt. Wer heute meint vorgeben zu können, was wir morgen erreichen sollen, wird immer in der Mittelmäßigkeit landen.
New Work? Inner Work?
Wenn ich vor dem Hintergrund dieser Thesen mein eigenes Leben betrachte, finde ich sie 1:1 bestätigt. Aus der Vielfalt von Themen entdeckte ich während meinen 20ern eines, welches mich wirklich interessierte: Wie verändern sich Lebenswelten im Zuge der Globalisierung? Meiner Begeisterung folgend schrieb ich darüber mit einer Freundin ein Buch. Tiefer in die Materie eindringend zog mich besonders die Frage an, welche Entwicklungsprozesse in China zu beobachten waren. Darüber schrieb ich weitere Artikel und Bücher. Auf einer Weltreise, die definitiv lustgesteuert war, entwickelten mein Mann und ich die Idee einer weltweiten crowdfunding Plattform für soziale Projekte. Zufällig lernten wir ein anderes Team kennen, welches eine ähnliche Vision verfolgten und gemeinsam bauten wir betterplace.org auf. Bald darauf begann ich mich für die weiteren Auswirkungen der Digitalisierung auf das gemeinwohl zu interessieren. Volia: der Startschuss für das betterplace lab war gefallen. Als ich dort meine Nachfolge plante, erzählte mir ein Kollege en passant von Re-Inventing Organisations. Das Buch wurde zur Blaupause für die Selbstorganisation des betterplace lab. Diese Erfahrungen wiederum inspirierten mich zum Buch New Work needs Inner Work, welches sich total überraschend zu einem Bestseller entwickelt.
Keiner dieser Schritte war geplant. Jeder einzelne ergab sich aus meinem Gespür für „das interessiert mich“. In der Retrospektive kann ich einzelne rote Fäden sehen, aber diese waren 1995, als ich den ersten Artikel zur Kulturellen Globalisierung schrieb, völlig unvorhersehbar. Innerhalb dieser größeren Trittsteine war es wiederum immer wieder höchst sinnvoll, konkrete Ziele zu setzen, um Bücher zu schreiben, Organisationen aufzubauen, Formate zu entwickeln.
Ein großer Befreiungschlag
Die Erkenntnis, dass „all of us can transform the present into the future. None can transform the future into the present“ ist sehr befreiend. Denn sie gibt uns Erlaubnis in die riesige Wildernis des Unbekannten aufzubrechen und die Dinge zu entdecken, die uns interessieren. Ein Trittstein führt zum nächsten und jeder von uns kann eine einzigartige Reise machen. Es gibt kein „richtig“ und „falsch“, sondern nur ein „mehr oder weniger nah dran“ an der eigenen Intuition.
Fakt ist aber auch, dass unsere Gesellschaft, auch mein sozialunternehmerisches Arbeitsfeld, völlig in Zielorientierung, Planung und Messung gefangen ist: angefangen mit den SDGs über die Wirkungsmessung bis zu der Anforderung von Geldgebern bei der sozial-digitalen Forschung „klare Ziele“ zu verfolgen. Nochmal: für kleine, inkrementelle Verbesserungen sind Ziele und Planung durchaus geeignet. Sobald wir aber etwas Bedeutsameres erreichen und systemisch agieren wollen, müssen wir aus diesem Korsett ausbrechen.
Wirkungsmessung mit und ohne Zielen
Das dies möglich ist, zeigen neue Entwicklungen im Bereich der Wirkungsmessung: Die weitverbreitete Praxis zu Beginn eines Projekts Zielindikatoren vorzugeben und diese dann über einen Zeitraum zu verfolgen und den Projekterfolg danach zu bewerten, ob die Ziele erfüllt wurden oder nicht, ist aus den oben angeführten Gründen kontraproduktiv. Soziale Wirkung ist ein viel zu komplexes Thema, als das sie mit linearen Indikatoren adäquat eingefangen werden kann. Wie es oben heißt: Wir können die Zukunft nicht in die Gegenwart transformieren.
Stattdessen macht eine andere Form von Wirkungsmessung, die so genannte „Developmental Evaluation“ Sinn. Sie geht davon aus, dass Programme, Menschen und Systeme fundamental miteinander verwoben und wechselbezüglich sind. In der Praxis beobachten Evaluatoren, wie sich eine Organisation, bzw. ein System über den Zeitverlauf/ in Folge einer Intervention entwickelt. Dabei geben sie keine Ziele vor, sondern beschreiben den Veränderungsprozess an sich in Echtzeit. Dies ermöglicht ihnen die komplexen, oft wechselbezüglichen Entwicklungsprozesse zu verstehen und erfolgversprechende Maßnahmen abzuleiten und auszutesten. (Ein konkretes Beispiel ist die Wirkungsmessung für das Wellbeing Projekt durch die TerraLuna Collaborative.) Zielgerichtete Wirkungsmessung ist oft inadäquat, weil wir die Ziele/Zukunft nicht vorhersagen können. Aber wir können beobachten wie sich Situationen verändern und auf der Basis dieser Erkenntnisse nach den nächsten Trittsteinen suchen, die Neues hervorbringen.
Why Greatness Cannot be Planned ist ein sehr lesenwertes Buch, nicht nur weil es mich in meinem opportunistischen, Interesse-geleiteten Lebensentwurf bestätigt, sondern weil die vielen Fallbeispiele der Autoren überzeugen. Zugleich sind wir als Gesellschaft weit davon entfernt die darin enthaltenen Erkenntnisse ernst zu nehmen. Ein zentraler Schritt wäre nämlich den richtigen Kompass für bedeutsame Innovationen und menschliche Entwicklung, den Stanley und Lehman relativ vage als „Interesse“ und „Bauchgefühl“ bezeichnen, tiefer zu betrachten. Was genau steckt dahinter? Wieso sind manche Menschen viel besser mit ihrer Intuition im Kontakt als andere? Was können wir als Gesellschaft unseren Sensor für „Interesse“ von Kindesalter an schärfen?
Und wie hilft mir Why Greatness Cannot Be Planned bei meinem eingangs beschriebenen Dilemma, im Sommer die richtige Balance zwischen der Abarbeitung von To-Do’s und dem Nichtstun (anders ausgedrückt: zwischen dem Tun und dem Sein) zu finden?
Nun, vor zwei Wochen hatte ich nicht vor mich in meinem Sommerferien mit der Planbarkeit von Innovationen zu beschäftigen. Dazu kam es, weil ein Berliner Freund kurz vor meiner Abreise eine Videokonferenz zwischen mir und einer amerikanischen Impact Investorin organisiert hatte. Diese, so stellte sich heraus, reiste gerade durch Frankreich. Der Call lief gut und ich lud sie für 24 Stunden nach La Haute Carpenee ein. Dort erzählte sie mir von dem Buch zweier KI Forscher … Was für ein Zufall!
Heute nach dem Aufstehen spürte ich das starke Interesse dieses Buch zu teilen: also bestellte ich ein Exemplar für das betterplace lab Team und setzte mich danach in den Schatten eines Olivenbaums um diesen Text zu schreiben. Den Nachmittag werde ich mit einem anderen Buch verbringen, das mich zieht: The Great Derangement von Amitav Gosh. Und dann kann es sein, dass ich mal ein paar Stunden einfach nur in der Hängematte liege und in den Himmel schaue.