Wege zu einer neuen Balance

Im Corozän gerät das Gleichgewicht zwischen unseren beiden konträren Grundbedürfnissen nach “Sicherheit” und “Freiheit” aus dem Gleichgewicht. Diese Erfahrungen haben mir geholfen sie neu herzustellen.

joana breidenbach
8 min readDec 30, 2020
Immersive Performance Wald der Verlorenen Väter, Fotos Barbara Lenartz

Die erzwungenen räumlichen und sozialen Beschränkungen dieses Jahres haben für viele von uns die Balance zwischen den beiden menschlichen Grundbedürfnissen nach Sicherheit und Zugehörigkeit auf der einen Seite und Freiheit, “autonomem Selbstausdruck” und Wachstum auf der anderen, schmerzhaft gestört.

Den ersten Pol, so scheint es mir, konnte ich auch im Home Office ganz gut halten. Ich kommunizierte unendlich viel online, ging mit meinen erwachsenen Kindern am Kreuzberger Kanal spazieren, entmistete den Keller und auch unser Garten sieht so gut aus wie nie zuvor. Doch den Gegenpol, Freiheit und Wachstum, befriedige ich seit Jahrzehnten (auch) durch viele Reisen und Ortswechsel — und die fielen plötzlich weg. Das Resultat: ich fühlte mich oft innerlich eng und unzufrieden und diese Empfindungen ließen sich auch unter dem Brennglas der Meditation nicht auflösen, sondern verlangten nach neuen Erfahrungen und Verhaltensmustern.

Es waren insbesondere zwei neue Erfahrungsräume, in denen ich mein Bedürfnis nach Neuem und Grenzüberschreitendem befriedigen konnte und die ich hier kurz beschreiben möchte.

Tiefer gehen

Mein erstes persönliches “Freiheit/Wachstums” Highlight 2020 war eine Reihe von Zoom-Gruppen, die sich über Monate hinweg regelmäßig — meist alle zwei Wochen — trafen und in denen wir uns auf ungewohnt intensive Weise über die Pandemie und ihre Auswirkungen auf unsere Leben austauschten. Eine dieser Gesprächsrunden wurde initiiert vom Londoner Alter Ego Network und führte mich u.a. mit einer Athener De-Growth Aktivistin, einem britischen Philosophen und einer Sozialunternehmerin aus Malta zusammen. Obwohl wir uns vorher nicht kannten, entwickelten wir über die Monate hinweg eine große Nähe und Intensität, die meine gewohnten sozialen Grenzziehungen erweiterte und sich neu und aufregend anfühlte. Das Gespräche dieser Art zwischen anfangs Fremden möglich waren und nicht zu den üblichen, schnell mechanisch werdenden Conference-Calls verkamen, lag maßgeblich an den beiden Facilitatoren aus dem Enspiral, bzw. Alter Ego Netzwerk. Sie gaben dem Austausch eine Direktheit und schonungslose Ehrlichkeit, die für die Gruppe bahnbrechend war.

Eine vergleichbare neue Qualität von Berührung erlebte ich mit einigen Freunden und Kollegen — meist auf Spaziergängen durch den Tiergarten, um den Schlachtensee oder entlang der Spree. Viele von uns spürten eine innere Enge und Druck, manche waren verzweifelt. Aber während wir früher dazu tendiert hatten diese Empfindungen wegzudrücken, gaben wir ihnen nun in unseren Gesprächen mehr Raum und riskierten es, uns einander auf neue, ungewohnte Art zu zeigen. Wir gingen in eine viel tiefere Resonanz.

Transformatives Rollenspiel und immersive Performance

Die zweite Art von Grenzöffnung, die ich beschreiben möchte, hatte stärker performativen Charakter. Kurz vor dem ersten Lockdown, im Februar 2020, lud mich eine Freundin im Rahmen des von ihr gegründeten Erebus Projekts zu einem “transformativen Rollenspiel” ein. Ohne weitere Vorkenntnisse — ich hatte nur eine grobe Storyline zu meinem Spielcharakter —tauchte ich einen Abend an einem mir unbekannten Ort und mit unbekannten Menschen — in die fiktive Welt eines autoritären Priesterkults ein.

Der Abend erzeugte bei mir ein Adrenalin-High und war sehr befreiend. Noch nie zuvor hatte ich so viel Raum gehabt, bislang eher unterdrückte Persönlichkeitsfacetten im Spiel auszuloten, darunter Wut und Konfliktlust. So kam es, dass ich im Laufe des Jahres an weiteren (virtuellen und analogen) Rollenspielen teilnahm und zwei Spielcharaktere entwickelte, die mir halfen festgefahrene Aspekte meiner Persönlichkeit zu hinterfragen und alternative Verhaltensweisen und Emotionen sehr körperlich zu erfahren.

Die Erfahrung, starre Muster in sich zu überwinden und alternative innere Räume auszuloten, wünsche ich viel mehr Menschen. Zum einen finde ich es auf der rein persönlichen Ebene extrem spannend in einem sicher gehaltenen Raum neue Referenzerfahrungen zu machen — so kann ich auch sein! Dies trage ich auch in mir! Zum anderen können wir dadurch neue Kompetenzen wie einen besseren Selbstkontakt, Selbstreflektion und die Fähigkeit zur Multiperspektivität erlernen, die für ein gestaltendes Leben in unsicheren und komplexen Zeiten wichtig sind.

Viele Trends, beschrieben in Büchern wie (dem teilweise unerträglich unreflektierten) Stealing Fire, weisen auf unser gesteigertes Bedürfnis hin, aus dem Kopf in den Körper zu kommen. Kognitiv überlastet, sehnen wir uns danach, uns neu zu erfahren und die engen Grenzen der eigenen Identität zu überwinden. Viele erleben, dass ihre Innenwelt zu klein ist, um die Impulse und Herausforderungen der digital-globale Welt adäquat zu bewältigen. Nachdem wir im Außen immer höher, schneller, weiter gekommen sind, streben ungewöhnliche innere Erfahrungen und Zustände an. Daher boomen spirituelle und kontemplative Techniken wie Yoga oder Meditation, erfahren bewusstseinserweiternde Substanzen eine Renaissance, ebenso wie Float-Tanks und Burning Man.

Doch an den Reaktion meiner Freunde, nachdem ich ihnen von den Rollenspielen erzählte, merkte ich auch, wie groß die inneren Hürden für so eine expressive Form der Selbsterfahrung sind.

Der Wald der verlorenen Väter

Eine Antwort darauf, wie ein niedrigschwelliger Zugang zu bislang unbespielten, eigenen inneren Räumen aussehen kann, erhielt ich kurz vor dem zweiten Lockdown. Eher zufällig, mein Sohn wirkte an der Produktion mit, besuchte ich den Wald der verlorenen Väter, eine immersive Theater Performance in der Berliner Malzfabrik. Inszeniert vom jungen weiblichen Regieduo Pathos 2000 tauchte ich als Theaterbesucherin für vier Stunden in die fiktive Welt einer Gruppe von Männern unterschiedlichsten Alters ein. Ihnen ist eins gemeinsam: sie haben ihre Familien verlassen, um zu sich und ihrer Männlichkeit zu finden. Als Verein organisiert, waren sie zuerst im Wald untergekommen, um ihre Sinnkrise gemeinsam zu bewältigen. Doch nachdem dort die Tesla-Fabrik errichtet werden soll, mussten sie weiterziehen und haben ihre Zelt und Tipis, Schlafsäcke und improvisierten Möbel in einem leer stehenden und ungeheizten Berliner Fabrikgebäude neu aufgebaut.

Dorthin laden sie die Besucher des Theaterstücks ein. An einem Tag der offenen Tür stellen sie sich der Öffentlichkeit vor um neue Impulse für ihre eigene Entwicklung zu bekommen und weitere Vereinsmitglieder zu werben.

Von Anfang an spielt die Inszenierung mit der unscharfen Grenze zwischen Realität und Fiktion. Im Vorfeld hatte ich mir einen Videofilm über den Verein angeschaut und war bis zum Schluss unsicher, ob dies schon Teil der Inszenierung, oder deren realweltliche Grundlage war.

Die Performancebesucher — was sind wir eigentlich? mehr Mitspieler als Zuschauer — werden zu Beginn des Abends einzelnen Männern zugeteilt, die uns in ihre Schlafhütten mitnehmen. Im Gespräch zwischen Vereinsmitgliedern und Gästen entblättert sich nach und nach die (fiktive) Lebensgeschichte der Männer.

Verschiedene Spielstationen des Vereins der verbundenen Väter, Fotos Barbara Lenartz

Der eine flüchtete vor familiärem Missbrauch. Ein schwuler Vater versucht die Trennung zu seinem Partner und den Konflikt mit seinem jungen erwachsenen Sohn zu bewältigen. Ein anderer fühlt sich von den Anforderungen seiner Partnerin und dem Neugeborenen derart überfordert, das er abgetaucht ist. Doch wirklich eingestehen kann er sich diesen Schritt nicht, sondern hält daran fest “ab morgen” wieder als großer Macker da zu stehen und die Familie zu ernähren. Die brüchigen Grenzen zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung, zwischen Anspruch und Wirklichkeit werden immerfort schmerzhaft sichtbar.

Die Fiktion, das Theater irgendetwas ohne den Zuschauerraum sein könnte, bricht schon zu Beginn des Stücks zusammen. Schauspieler und Zuschauer brauchen sich gegenseitig — der Performer kann nur ein solcher sein, wenn er ein Publikum hat und der Besucher kann nur etwas aus dem Stück ziehen, wenn er in Resonanz geht.

Irgendwann sitze ich mit einer jungen Frau zusammen, als diese anfängt von ihrem eigenen schwierigen Leben zu erzählen. Sie holt ihr Handy raus und zeigt uns Fotos — von ihrer Schwester, die sie nach dem frühen Weggang der Mutter selbst aufgezogen hat und die gerade einen schwulen Freund geheiratet hat, um den Familienschein zu wahren. Verwundert schaue ich sie an: ist sie eine neue Spielfigur, oder hat sie die Performance als Chance ergriffen, ihr eigenes Leben mit uns zu reflektieren?

Als Gäste können wir von Zelt zu Schlafplatz gehen, oder an einer der Workshops teilnehmen, die den Tagesablauf der Gruppe prägen. Diese halbstündigen Sessions erinnern mich an viele reale Methoden aus Therapie und Selbsterfahrung. In einem Workshop experimentieren wir mit langen Augenkontakten, in einem anderen begegnen wir unserer eigenen Verwundbarkeit durch eine geführte Meditation.

Raum für immersive Workshops, Foto Barbara Lenartz

Ein anderes berührendes Thema ist die Beziehung zwischen Mensch und Natur. Im Wald stand den Männern die Natur zur Co-Regulation ihrer eigenen aufgeriebenen Nerven zur Verfügung — dies fehlt in der kalten, zugigen Fabriketage. Fotos an den Wänden vom letzten Ausflug in den Wald zeugen von ihrem Versuch wieder mit der Natur Kontakt aufzunehmen, ebenso wie ein riesiges, aus Zweigen und Blättern auf dem brutalen Beton errichtetes Zelt.

Die in wenigen Sätzen angerissenen Biographien der Männer, allesamt überzeugende Schauspieler, laden uns ein gemeinsam tiefer zu gehen — zu erforschen, wie Mann-Sein und Partnerschaft heute neu verhandelt werden. Zugleich betritt man kein didaktisch aufbereitetes Uni-Seminar zu neuen Männlichkeitstheorien, sondern taucht mit der ganzen Wahrnehmung in einen sowohl banalen, als auch komplexen Erfahrungsraum ein. Jede Person, ob Schauspieler oder Gast, stellt ein Einstiegstor dar, unterschiedliche Themen in 3D zu explorieren. Das lebt natürlich auch maßgeblich von der Forscherfreude der Gäste und ich kann mir andere, zähere, Abende vorstellen, an denen das Publikum nicht so mitgegangen ist, wie an diesem.

Sind wir Gäste bis dahin frei im ganzen Areal verteilt herumgelaufen, werden wir zum Abschluss in einem riesigen, festlich erleuchteten Betonsaal geführt. Hier findet unter rituellen Trommelklängen ein archaischer Kampf zwischen Vater und Sohn statt. Was in vielen anderen Settings eher peinlich und gewollt erschienen wäre, bildet hier einen energetisch aufgeladenen Abschluss einer gemeinschaftlichen Produktion aller Anwesender.

Unseren Applaus können wir Besucher erst geben, als wir schon alleine im Foyer am Ausgang stehen. Vier Stunden sind vergangen, sie erscheinen mir gerade mal halb so lang. “Das war eines der besten Stücke, das ich in den letzten Jahren gesehen habe. Spielfreudig, authentisch, präzise und zugleich frei”, sagt ein Mann beim Verlassen der Malzfabrik. Eine Freundin berichtet, dass sie sich noch in den nächsten Tagen beim Aufwachen gefragt hatte, was wohl die Männer gerade machen?

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In diesem zähen Jahr voller Stillstand und wenig Freiraum gehören meine Erfahrungen mit ungewöhnlich geleiteten Zoom-Calls, transformativem Rollenspiel und immersiver Performance zu den Highlights. Sie beantworten (m)ein immer stärker werdendes Verlangen “aus dem Kopf raus zu kommen” und bieten meinem System neuen Sauerstoff um fluider und beweglicher zu werden. Zugleich ermöglichen sie einen spielerischen Perspektivwechsel, der uns einlädt die Welt aus einer höheren und komplexeren Ebene körperlich, emotional und intellektuell zu begreifen.

Falls ihr Lust habt, selbst etwas von alle dem auszuprobieren, besucht das Erebus Projekt, verfolgt Pathos 2000 oder meldet euch für Bettinas und meine Zoom Calls zu Inner Work (und New Work) rein. (Der erste findet schon am 2. Januar 2021 statt: Making Sense of 2020).

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joana breidenbach

anthropologist, author, social entrepreneur, co-founder of betterplace.org and betterplace lab, more recently New Work needs Inner Work