Wie lange wollen wir noch Bullshit Innovations feiern?
In den 14 Jahren, in denen ich mich intensiv mit digital-sozialen Innovationen beschäftige, komme ich immer wieder zu einer sehr einfachen Unterscheidung zurück: der zwischen Bullshit Innovationen und „meaningful“ oder sinnvollen Innovationen. Über das Thema habe ich vor kurzem einen Vortrag gehalten, den ich hier in Stichworten wiedergebe.
Die Bezeichnung “Bullshit Innovations” ist an David Graeber‘s Bullshit Jobs, angelehnt und bezieht sich auf all die Tausenden, ja Millionen von neuen Produktideen und Geschäftsmodellen, die unserem Planeten schaden, bzw. dem Leben nichts wirklich Neues hinzufügen. Einige dieser Innovationen hätten im 20. Jahrhundert vielleicht noch zu Lebensqualität, Wohlstand und Komfort beigetragen, erzeugen heute jedoch mit ihren nicht eingerechneten Externalitäten enormen Kollateralschaden: tragen zum Umweltsuizid bei oder verstärken soziale Unzufriedenheit und Elend. Ihr einziger Nutzen besteht darin, das internationale Finanzsystem und unsere Wachstumsideologie aufrechtzuerhalten, die kurzfristig ein paar Menschen sehr reich macht.
Sinnvolle Innovationen demgegenüber verbessern die Lebensqualität von vielen Menschen und bieten adäquatere Antworten auf die drängenden Herausforderungen unserer Zeit: sie ermöglichen ein wirtschaften in planetarischen Grenzen und erlauben es immer mehr Menschen authentisch und lebendig, gesund und würdevoll zu leben. Sie nutzen regenerative Energien und zeichnen sich durch Nachhaltigkeit und Resilienz aus. Sie sind reparaturfähig, selbstorganisiert, dezentral und holistisch.
Während Erfolg im Bullshit-Modell mit maximaler wirtschaftlicher Profitabilität gleichgesetzt ist, definiert sich dieser im Bereich sinnvoller Innovationen als gut für die drei Ps: Profit, People und Planet.
Innovationen, die das alte Modell des extrahierenden Paradigma des 19. und 20. Jahrhunderts perpetuieren, sind Bullshit, während Innovationen die dem regenerativen Paradigma den Weg weisen, sind sinnvoll. So einfach ist das.
Warum sehen wir dann aber so viele Bullshit Innovationen?
Wenn ich mir die Startups in Inkubatoren und Acceleratoren anschaue, dann fallen die meisten davon in die Bullshit-Fraktion. Und das, obwohl sie digitale Technologien verwenden, deren Potential ideal zum neuen Paradigma passen würde. Denn digitale Dynamiken wie Dezentalisierung, Kollaboration und Ko-Kreation, aber auch Tracking und Künstliche Intelligenz, Flexibilisierung und Agilität, öffnen einer ganz neuen Lebens- und Wirtschaftsweise die Türen. Aber die meisten der großen gehypten Innovationen verstärken das alte Paradigma mit seinen mittlerweile zum Himmelschreienden Pathologien: von Uber über Amazon bis Facebook: sie treiben Millionen von Menschen ins Prekariat, verstärken den hohlen Konsumterror und zerstören im Zuge der Polarisierung demokratische Gesellschaftsstrukturen.
Nun, offenbar haben wir ein sehr naives Verständnis von Innovation und Transformation. Denn wir verstehen darunter vor allem die Einführung neuer Technologien, Geschäftsmodellen, Produkten und Dienstleistungen. Bei diesem Fokus auf die Außenwelt ist es kein Wunder, das wir keine wirkliche Zukunft schaffen, sondern Neues nur mit Vertrautem einsetzen und so die Vergangenheit noch ein Stück verlängern.
Um jedoch wirklich Neues in die Welt zu bringen müssen wir an einer anderen Stelle ansetzen: Wir müssen uns selbst als Menschen transformieren und unseren engen Vorstellungshorizont erweitern. Denn bislang verstehen wir unter Innovationen meist nur die schrittweise Verbesserungen bestehender Dinge, oder sehen sie als reine Mittel zum Zweck der maximalen Profitmaximierung. Erst wenn wir als Menschen wachsen – unsere Phantasie fliegen lassen und in uns neuen Werten nachspüren, werden wir digitale Technologien dafür nutzen können wirklich etwas Neues zu schaffen.
In meiner Erfahrung haben wirklich innovative Mitarbeiter und Teams ein neues Mindset; sie sehen und erfahren die Welt auf neue Art und Weise. Und sie haben neue Fähigkeiten, von denen sie aus Manifestationen entwickeln.
Komplexität im Außen braucht Differenzierung im Innen
Die digitale, dezentrale und verflüssigte Welt ist wesentlich komplexer als ihr industriezeitlicher Vorläufer. Unser Verstand und die Filter durch die wir Welt erfahrene, ebenso wie unsere Gefühlswelt und physischen Sinneswahrnehmungen sind aber noch tief in der weniger komplexen, hierarchisch und streng arbeitsteilig geprägten Gesellschaft verankert. Im Umgang mit der Digitalisierung versuchen wir also eine neue Realität mit einem veralteten Instrumentarium zu navigieren. Das kann nicht gut gehen, sondern muss darin münden, das wir das digitale Potential schmerzhaft reduzieren.
Was aber braucht es, um Innovativen zu schaffen, die der heutigen Zeit gerecht werden? Zum einen sind das individuelle Kompetenzen: Das Industriezeitalter und die meisten heutigen Arbeitsplätze verlangen von uns aus genormte Rollen aufzutreten. Wir sind „Typen“ – Mitläufer, die sich nicht trauen aus der grauen Masse hervorzutreten. (Da schließe ich mich explizit mit ein, denn auch ich ertappe mich immer wieder dabei Erwartungen von Außen zu erfüllen, Sachen „richtig“ machen zu wollen, statt meinem eigenen Kompass zu folgen). Aber nur wenn wir authentisch, als „ganze Menschen“ erscheinen können, sind wir in der Lage unser Potential zu entfalten. Nur wenn ich mich als Mensch mit meinen Gefühlen wirklich spüre, kann ich auch wissen, was mich motiviert und was ich originär zum Leben beitragen kann.
Beziehungskompetenzen wiederum ermöglichen es mir mit anderen zu kollaborieren und ko-kreieren. Dafür muss ich in der Lage sein offen und transparent zu kommunizieren und auch vor Konflikten nicht zurückzuschrecken. Statt andere Meinungen und Verhaltensweisen unweigerlich als „schlecht“ und „falsch“ abzuwerten, bin ich in der Lage verschiedene Perspektiven einzunehmen und die daraus resultierenden Spannungen in mir auszuhalten.
Und um von Komplexität nicht überwältigt zu werden, sondern in ihr zu navigieren, können wir die Fähigkeit entwickeln „das Ganze zu sehen“, Trends als Bewegungen frühzeitig wahrzunehmen und sie auf ihre Inklusionsfähigkeit zu untersuchen. Wenn ich Produkte und Dienstleistungen entwickeln will, die der Vielschichtigkeit und den Interdependenzen unserer Gesellschaft und des Planeten gerecht werden wollen, reicht mein linear-rationaler Verstand nicht mehr aus. Stattdessen bemühe ich meine Intuition und lasse mich in tiefe Versenkungszustände hineingleiten, in denen neue, tiefere Wahrheiten auftauchen können. (Dies entspricht dem, was Otto Scharmer als U-Prozess beschreibt).
Um also wirklich innovativ zu sein, müssen wir auf innere Reisen gehen, während derer sich unsere Identität und Weltsicht unweigerlich verändern. Erst vor dem Hintergrund dieser neuen, breiteren und tieferen Perspektive werden wir Bullshit Innovationen ignorieren und statt ihrer sinnvolle Innovationen fördern und gestalten.
Was folgt daraus für unser Innovationssystem?
Zum einen wünsche ich mir eine breite Debatte darüber, welche Art von Innovationen wir entwickeln wollen? Bullshit oder Sinnvoll? Wissenschaftlerinnen wie Mariana Mazzucato liefern dazu wertvolle Beiträge.
Lasst uns Erfolg auf ganzheitliche Weise definieren, so dass sie gut sind für den Planeten, Menschen und Profite.
Für sinnvolle Innovationen braucht es geduldiges Kapital, denn sie haben meist eine längere Entwicklungszeit, da sie viel mehr Komplexität beinhalten/integrieren. Dazu gehören beispielsweise die Gestaltung von Wirtschaftskreisläufen, bei denen das Abfallprodukt eines Produktionsvorgangs der Rohstoff für ein weiteres Produkt ist.
Und lasst uns schlussendlich Verständnis, Zeit und Räume für Inner Work schaffen, in denen wir uns als Menschen weiterentwickeln und uns trauen unseren inneren Stimmen zu folgen statt sozialen Erwartungen gerecht zu werden.
Mehr zu diesem Thema findet ihr hier: How can we create meaningful innovations?